Eine anständige Art, sich zu betrinken


Zum ersten Mal bin ich als kleines Kind mit Kräuterschnaps in Berührung gekommen. Frau Matzke, die im Erdgeschoss in meinem Elternhaus wohnte, war manchmal recht unsicher auf den Beinen, und das Sprechen fiel ihr schwer. Sie sei krank, sagte meine Mutter. Im Sommer, wenn das Fenster offenstand, hörte man abends oft ein leises Klirren. Da ist wieder eine Klosterfrau aus dem Fenster gefallen, sagte meine Mutter dann. Einmal, beim Spielen, fand ich einen Berg von kleinen Fläschchen unter Frau Matzkes Fenster. Auf den Etiketten waren drei grimmig blickende Nonnen abgebildet. Klosterfrau Melissengeist war eben die einzig anständige Art für ältere Damen, sich zu betrinken. Eigentlich war es ja Medizin.


Schwester Renata ist auch eine Klosterfrau, aber sie sieht überhaupt nicht grimmig aus. Die kleine, grauhaarige, schlanke Frau strahlt Ruhe aus. Sie gehört dem Orden der Benediktinerinnen an. Die 65-jährige lebt seit 37 Jahren im Kloster Frauenwörth auf der Fraueninsel im Chiemsee, seit zwölf Jahren hat sie dort einen wichtigen Posten: Sie ist für die Kräutermischungen zuständig, aus denen der Chiemseer Klosterlikör, der Halbbitter und der Magenbitter hergestellt werden. Die Rezepte will sie nicht verraten. „Sie sind hier drin“, sagt sie und tippt sich an die Stirn. Zur Sicherheit liegen sie aber auch im Tresor.


Die Rezepte sind Jahrhunderte alt, Heiltränke wurden bereits 1263 in der Kosterchronik erwähnt. „Das Kloster war das Gesundheitszentrum für die ganze Gegend“, sagt Schwester Renata. Als es 1803 im Zuge der Sälularisation aufgelöst werden musste, blieben ein paar Nonnen zurück, darunter die Apothekerin, und nach der Wiederzulassung 1837 wurde auch die Kräuterschnapsproduktion wieder aufgenommen.


Von der Kellerei, die früher ein Schwimmbad war, als es im Kloster noch eine Schule gab, geht ein kleiner Raum ab, den Schwester Renata mit einem Schlüssel öffnet. Im schummrigen Licht erkennt man 15 braune Tonnen mit Kräutern, den Grundzutaten für die Schnäpse. Die Tonnen sind lediglich nummeriert. „Ein Einbruch nützt also gar nichts“, stellt Schwester Renata lakonisch fest.


Bis 1969 haben die Nonnen die Kräuterschnäpse auf der Fraueninsel selbst hergestellt, doch dann war ihnen der Aufwand zu groß. Seitdem schicken sie die Mischungen nach Kolbermoor zur Brennerei Stettner, die auch den Generalvertrieb übernommen hat. „Die ersten Kontakte fanden Mitte der sechziger Jahre statt“, sagt Firmengründer Franz Stettner, dem man seine 78 Jahre bei weitem nicht ansieht. „Ich verhandelte damals mit der Äbtissin Benedikta. Zwischen uns war jedoch ein Gitter, ich musste auf der weltlichen Seite bleiben.“


Im Lauf der Jahre wurde es einfacher. „Es ist in der heutigen Zeit besonders wohltuend, mit dem Kloster zu arbeiten“, sagt Stettner. „Es herrscht keine Hektik, die Atmosphäre ist seriös, nie fällt ein grobes Wort.“ Die Kräuterzutaten kennt er aber auch nicht: „Die Mischung wird in einer verplombten Kiste angeliefert.“ Kräuterschnäpse seien auf dem Vormarsch, glaubt er, weil Firmen wie Jägermeister breit angelegte Werbekampagnen führen, die auf jüngere Käufer abzielen.


Vor sechs Jahren hat die Marke mit dem Hirschen begonnen, das verstaubte Image abzulegen. Vor allem in den USA war man damit sehr erfolgreich: Das Gemisch aus 54 Kräutern und Branntwein, als eisgekühlter Jägermeister-„Shot“ serviert, ist dort bei jungen Leuten inzwischen ein Kultgetränk. Mit der Kampagne „Ich trinke Jägermeister, weil...“, bei der Männer und Frauen mittleren Alters von ihren persönlichen Motiven für den Griff zur Jägermeisterflasche erzählten, hat die Firma Schluss gemacht.


„Ich war einer der Väter dieser Werbekampagne“, sagt Harry Rowohlt, mein Mitstreiter in Sachen Kräuterschnaps. Anfang der siebziger Jahre, als er einen Job suchte, vermittelte ihn ein Freund an die Agentur, die für die Jägermeister-Werbekampagne verantwortlich war. Über das beworbene Produkt fällt er ein vernichtendes Urteil: „Eigentlich kann man den doch nicht trinken. Dann schon lieber Ratzeputz. Das ist der einzige Kräuterschnaps, der seinen Namen aussprechen kann, weil er so scharf ist.“


Eigentlich ist Harry Übersetzer, er hat weit über hundert Bücher ins Deutsche übertragen. Und er ist Gelegenheitsschauspieler, als Penner in der „Lindenstraße“. Vor allem aber hat ihn die irische Whiskey-Firma Jameson zum „Botschafter für irischen Whiskey“ ernannt. Harry bringt also alle Voraussetzungen für einen Kräuterschnapstest mit.


Der Chiemseer Magenbitter, dessen Abgang man aufgrund der erzeugten Wärme bis zum Mageneingang genau verfolgen kann, stellt ihn zufrieden: „Er erfüllt alle Anforderungen an einen Magenbitter.“ Den Halbbitter hingegen, der nach einer frisch gemähten Kräuterwiese riecht, hält er für Etikettenschwindel: „Der ist gar nicht halb bitter, sondern höchstens ein Zweiunddreißigstel bitter.“ Der Klosterlikör, der zu meiner Überraschung gar nicht süß ist, kribbelt bei Harry „ein bisschen um den schlecht verheilten Teil der Candida albicans herum“. Das ist die Schleimhaut in Nase und Rachen, an der Harry vor einiger Zeit operiert worden ist.


Kräuterschnaps soll ja verbinden. Während Harry für Jägermeister textete, lief im deutschen Schulfensehen Anfang der Siebziger die „Hobbythek“, in der es über Kräuterschnäpse hieß: „Sie wirken nicht nur entkrampfend und entspannend, sondern auch auflockernd und vielleicht sogar verbindend. Und man bekommt durch sie keinen Kater.“ Eine gewagte These, vor allem im Schulfensehen. Wir werden es nachprüfen, und zwar auf dem Samerberg, nicht weit von Kolbermoor.


Der Samerberg ist eine Ansammlung von Bauerndörfern im Inntaldreieck. Ich habe als Kind und als Jugendlicher meine Schulferien dort verbracht und mich zum ersten Mal verliebt – in die Landschaft, und in Hildegard, die schöne Bauerstochter. Sie ist längst verheiratet und lebt in der Stadt, aber den Entenwirt in Törwang gibt es noch. Peter Schrödl hat dichte, blonde Haare, trägt eine Brille und ist vertrauenserweckend rundlich. In seinem Gastraum ist alles Ente: Die Gläser, die Speisekarte, die Dekoration – voller Enten. Selbst das dunkle, untergärige Bier heißt Entenbier.


Die gebratenen Enten, die auf einem Rollwagen aus der Küche an die Tische geschoben werden, zerteilt Schrödl selbst. Zum Nachtisch gibt es einen Entenjäger. Das ist ein Schnaps, der aus Äpfeln, Birnen und Kräutern hergestellt wird – das Gesöff ist wirklich gut, nicht zu süß, nicht zu alkohollastig, er legt sich wie Samt an die Magenwände und bereitet die Ente darauf vor, verdaut zu werden. Das Rezept ist natürlich geheim. „Ein Bauer aus der Nachbarschaft stellt ihn für mich her“, sagt Schrödl. „Wir haben lange mit dem Alkoholgehalt herumprobiert. Jetzt hat er 30 Prozent und passt ideal zur Ente.“ Stimmt. Aber ob die Ente das auch so sieht?


Auf dem Samerberg, sagt Schrödl, gebe es mindestens 20 Schnapsbrenner. Einer davon ist Michael Stuffer aus Vordergrub. Er macht seit 30 Jahren Kräuterlikör, er hat die Kunst von seinem Vater gelernt. Von dem stammt auch das Rezept. Die meisten Kräuter, soviel verrät Stuffer, sammelt er selbst, manche muss er dazukaufen. „Er schmeckt nach etwas, das ich kenne“, sagt Harry Rowohlt. Nach einer Weile kommt er drauf: „Kalmus! Die Wurzel kaut man bei Magenverstimmungen. Das war schon im Altertum bekannt. In China nannten sie das Zeug ,Lebensverlängerer’, im alten Ägypten hieß es ,heiliges Rohr’.“ Es soll auch ein brauchbares Mittel sein, um sich das Rauchen abzugewöhnen, füge ich hinzu, doch davon will Harry nichts wissen.


Stuffer hat inzwischen eine neue Flasche geholt. Er ist 73, hat graue Haare, die unter einer schwarzen Schirmmütze versteckt sind, und trägt Gummistiefel sowie eine blaue Arbeitshose. Wir setzen uns auf die Bank vor dem Haus. An der Giebelwand ist das Brennholz sauber aufgestapelt, ringsum stehen Kisten voller Äpfel und Pflaumen. Bald werden sie leckerer Obstler sein. Aber wir sind wegen des Kräuterschnapses hier. Für Stuffer ist die Brennerei nur ein Nebenerwerb, er stellt rund 400 Liter im Jahr her. „Die Qualität muss konstant sein“, sagt Stuffer und schenkt nach. Harry Rowohlt bescheinigt ihm, dass sein Getränk das „ideale Mittel gegen Schlechtigkeit“ sei. Und einen Kater bekommen wir davon nicht, obwohl wir noch ein Fläschchen Wein draufgegossen haben.


Wein gibt es seit Noah, Schnaps seit Moses. Jedenfalls ist in einem der Bücher Moses ein „starkes Getränk“ erwähnt. In die Weltliteratur ist der Kräuterschnaps im Gegensatz zum Wein nicht eingegangen. Aber er hat einen kleinen Literaturskandal ausgelöst. Als Wolfgang Schreyer 1953 in der DDR seinen zweiten Roman veröffentlichte, empörten sich einige Herrschaften wegen des Titels. Das Buch hieß „Mit Kräuterschnaps und Gottvertrauen“, was der Führungsriege der Blockpartei CDU zu anstößig klang, weil der Schöpfer in die Nähe eines alkoholhaltigen Getränks gerückt wurde. Das Buch verschwand sang- und klanglos und wurde erst 50 Jahre später wieder aufgelegt.


Hans-Georg Schaaf hält nichts von herkömmlichen Kräuterschnäpsen. „Sie wirken nicht, weil es eine Höchsmengenverordnung gibt“, sagt er. „Der Gesetzgeber hat vorgeschrieben, dass nur wenige Kräuter hinzugegeben werden dürfen.“ Aber man kann die Vorschrift völlig legal umgehen, was er in seinem Geschäft gerne tut.


Der „Zaubertrank“ ist ein recht großer Laden in einem Flachbau in der Nähe des Hauptbahnhofs in Harry Rowohlts Heimatstadt Hamburg. Es riecht wie in einer Hexenküche, im hinteren Teil des Ladens stehen auf Holzregalen Hunderte von Glasballons, kleine und große, mit bunten und farblosen Flüssigkeiten, mit Etikett oder ohne. Am Eingang des Ladens hängt ein Warnschild: „Betreten Sie diesen Laden nur, wenn Sie bereit sind, sechs Seiten Text ernsthaft und gründlich zu lesen und die Folgen mit mir aufzuarbeiten.“ Wir sind bereit.


Schaaf, ein rundlicher, kleiner Mann mit schütterem Haar und dünnem Bart, ist eigentlich Diätkoch. „Deshalb darf ich diätetische Beratungen durchführen und diätetische Produkte herstellen“, sagt er. „Die müssen nicht der EU-Norm entsprechen und können durchaus stärker sein. Allerdings sind sie nicht frei verkäuflich, sondern werden nur nach diätetischer Beratung abgegeben.“


Der vom Kräutergehalt stärkste und der zweitstärkste Absinth der Welt zum Beispiel. Schaaf rattert die Zutaten herunter, von Geheimhaltung keine Spur: „Beifuß, Diptam, Duftwermut, Eberraute, Kampfereberraute, Lebensbaum, Muskatellersalbei, Poleiminze, pontischer Wermut, Präriebeifuß, Rainfarn, Strandbeifuß, Wasserminze.“ Danach klärt er uns ein Stündchen lang über die Gefahren bestimmter Naturprodukte auf, manchmal stellt er uns wie bei einer Prüfung Fragen, um festzustellen, ob wir aufgepasst haben.


Danach kommt der praktische Teil. Der Mega-Absinth lässt einem das Blut in den Adern gefrieren, er ist höllisch bitter, doch die etwas schwächere Version ist äußerst schmackhaft. Auf die Zutaten wäre ich allerdings nicht gekommen, höchstens den Beifuß hätte ich erkannt, weil ich ihn aus der Weihnachtsgans kenne. „Der Absinth schlägt ein wie ein Blitz“, sagt Schaaf. „Er wirkt wie ein Aphrodisiakum. Danach ist man vier Stunden lang spitz.“ Er rauche kein Haschisch, weil er davon hungig und spitz werde, sagt Harry. „Es ist doch ganz schön, mal nicht hungrig und spitz zu sein“, fügt er hinzu und gießt sich einen Löwenzahnblütenlikör ein.


 

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