eine bahn für einen blinden passagier – von RALF SOTSCHECK


Man kann es kaum glauben: Vor hundert Jahren besaß Irland das dichteste Eisenbahnnetz Europas. Heutzutage ist eine Zugfahrt auf der Grünen Insel ein zweifelhaftes Vergnügen. Von Dublin aus führen ein paar Strecken fächerförmig ins Land, Querverbindungen gibt es so gut wie nicht. Aber dafür haben sie den Bahnhof in der Hauptstadt aufwändig renoviert.


Er ist nach Seán Heuston benannt, einem der Anführer des Osteraufstands gegen die englischen Besatzer im Jahr 1916. Er hatte früher in der Bahnhofsverwaltung gearbeitet. Als der Bahnhof 1846 eröffnet wurde, hieß er noch Kingsbridge Station. Er war damals das größte geschlossene Bauwerk der Welt. Das von Sancton Wood entworfene Originalgebäude hat die Modernisierung überlebt, was in Irland keineswegs selbstverständlich ist, geht man doch mitunter recht rüde mit historischen Gebäuden um. Der Bahnhof hat jetzt neun Bahnsteige. Die Nummer 9 gibt es allerdings nicht – statt dessen aber eine Nummer 10.


So dünn das Streckennetz ist, so rar sind auch die Züge, weshalb sie zu Stoßzeiten überfüllt sind. Manchmal geht es aber auch anders. Neulich an einem Sonntag hatte sich vor dem Bahnsteig eine Schlange von mehr als 300 Leuten gebildet, die mit dem Zug um 18:25 Uhr nach Limerick fahren wollten. Die irische Bahn funktioniert nach einem eigenen System: Man muss am Kopf des Bahnsteigs durch eine Fahrkartenkontrolle, bevor man einsteigen darf. So viel Zeit muss sein.


Bevor der Bahnangestellte die Schranke jedoch öffnete und mit der Kontrolle begann, wurde ein Blinder von einem Bahnangestellten an der Schlange vorbeigeführt, damit er sich nicht dem Gedränge aussetzen musste. Nachdem er an seinen Platz geführt worden war, signalisierte der Schaffner, dass der Zug nun für die anderen Fahrgäste einstiegsbereit sei. Der Lokführer aber missdeutete das Signal, das gar nicht für ihn bestimmt war. Er glaubte, dass alle Leute an Bord waren und fuhr los.


Die 300 hoffnungsvollen Passagiere, die insgesamt rund 20.000 Euro für ihre Tickets bezahlt hatten, beobachteten ungläubig, wie ihr Zug langsam am Horizont verschwand. Zwar verständigte die Bahnhofsaufsicht den Lokführer, doch er durfte nicht mehr zurück: Das hätte den Fahrplan für den Rest des Abends durcheinander gebracht, lautete die lahme Erklärung – als ob die Züge die ganze Nacht hindurch im Zweiminutentakt aus Heuston abfahren. In Wirklichkeit gibt es abends gerade Mal ein Dutzend Züge, um halb zehn macht der Bahnhof dicht.


Der blinde Passagier, gewöhnt an brechend volle Züge, hat sich vermutlich gegruselt, als ihm klar wurde, dass er der einzige Passagier war. Seine verhinderten Mitreisenden wurden in den ohnehin überfüllten Zug nach Cork gestopft, der auf halber Strecke einen außerplanmäßigen Zwischenstopp einlegte. Dort mussten die Reisenden auf einen Sonderzug warten, der ihnen aus Limerick entgegengeschickt wurde.


Das Bahnunternehmen hatte schlauerweise verschwiegen, dass man den Leuten die Hälfte des Fahrpreises als Entschädigung erstatten wollte. Das erfuhren sie erst zwei Tage später aus der Zeitung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die meisten ihre Tickets längst weggeworfen.

 

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