Mit dem Hirschjäger-Express ins Hochland


Als es draußen langsam hell wird, ist der Zug schon weit hinter Glasgow. Bei Garelochhead steigen die Gleise steil an, das Meer verschwindet langsam aus dem Blickwinkel: Das schottische Hochland beginnt. Plötzlich legt sich der Zug in einer langgezogenen Kurve ein wenig auf die linke Seite, so dass man durch das Fenster tief ins Tal auf den Loch Long blickt. Auf dem See schippern ein paar Ausflugsboote, die meisten liegen jedoch jetzt in der Vorsaison noch vertäut im Hafen von Arrochar.


Der Schlafwagenschaffner serviert dünnen Kaffee und ein Hörnchen mit Butter und Marmelade. Die Abteile sind winzig, die Etagenbetten aber bequem, wenn man nicht besonders groß ist. Der "Western Highlander", wie der Nachtzug offiziell heißt, fährt abends um halb neun vom Londoner Bahnhof Euston ab und kommt zwölf Stunden später in Fort William an. Sein Spitzname lautet "Hirschjäger-Express", weil er von den schottischen Lords und Unterhausabgeordneten am Wochenende für Heimatbesuche genutzt wird.


Eigentlich sollte der Schlafwagenzug für immer eingemottet werden, wenn es nach der Eisenbahngesellschaft British Rail gegangen wäre. Man wollte das Eisenbahnnetz ausdünnen und die unrentablen Strecken dichtmachen, um die Staatsbahn für die Privatisierung flottzumachen. Jedes Ticket müsse mit umgerechnet mehr als tausend Mark subventioniert werden, behauptete British Rail. Stimmt nicht, widersprachen die "London Friends of the West Highland Line", eine Bürgerinitiative zur Rettung der Strecke: In Wirklichkeit liege die Zahl bei hundert Mark - etwa genau so viel, wie die Königliche Oper an Zuschüssen pro Sitzplatz kassiere.


Nach Arrochar führt die Eisenbahnstrecke zum Loch Lomond, dem größten Binnensee Großbritanniens, und läuft für die nächsten 40 Kilometer am Ufer entlang. Der See hat 30 Inseln, darunter Inchmurrin mit den Ruinen des Lennox Castle. Inchmurrin und eine weitere Insel, Inchclonaig, wurden früher benutzt, um Alkoholiker und Geisteskranke zu isolieren. Am Ende des Loch Lomond, hinter Ardlui, geht es bis Crianlarich wieder bergauf. Hier teilt sich die Strecke: Nach Westen gelangt man nach Oban, nördlich führt die Strecke weiter nach Fort William. "Früher sah man Crianlarich als Grenze der Zivilisation an", heißt es in einem Eisenbahnführer von 1894, dem Jahr, als der Bahnhof eröffnet wurde. Das Originalgebäude steht nicht mehr: Es brannte im März 1962 ab. Auch die früher bei den Reisenden so beliebten Picknick-Körbchen, die auf dem Bahnsteig verkauft wurden, gehören der Vergangenheit an, seit in den zwanziger Jahren Speisewagen an den Zug gehängt wurden.


In Crianlarich steigt eine Wandergruppe aus: fünf Mädchen, zwei Jungen und der erwachsene Gruppenleiter. Alle tragen Wanderstiefel und graue Wollkniestrümpfe. Vom Bahnhof führt ein Fußweg zum "West Highland Way", einer Wanderstrecke von Glasgow nach Fort William, die bis zum 20 Kilometer nördlich gelegenen Bridge of Orchy parallel zur Eisenbahnlinie verläuft. Danach führt der Wanderweg nordwestlich durch die Berge nach Fort William, während die Bahn einen 80 Kilometer langen Bogen durch das Moor von Rannoch im Norden schlägt. Zwischen dem Fluß Orchy und der Bahnstrecke kann man einen riesigen Findlingsstein sehen. Laut Überlieferungen soll ein kräftiger junger Mann vom Clan der MacGregors versucht haben, den Stein vom Gipfel des Ben Doran quer über das Tal zum Hügel auf der gegenüberliegenden Seite zu werfen, was ihm nicht ganz gelang.


Das 30 Kilometer breite Hochmoor beginnt bei Garton, dessen Bahnhof nicht mehr in Betrieb ist. Ein alter Eisenbahnwaggon auf einem Abstellgleis diente früher als Schule für die Eisenbahnerkinder. Die Moorlandschaft, die sich bis zu den schneebdeckten Grampians am Horizont hinzieht, ist von faszinierender Eintönigkeit. Mitten hindurch führt ein schmaler Pfad nach Kingshouse, wo er auf den West Highland Way trifft. Schilder warnen davor, vom Pfad abzuweichen: Viele Menschen sind im Moor verschwunden, vor allem zu Anfang des Jahrhunderts, als in Kinlochleven ein Aluminium-Schmelzofen gebaut wurde und manch Bauarbeiter eine Abkürzung durchs Moor nehmen wollte. Rannoch Moor ist übrigens der Schauplatz von Robert Louis Stevensons Roman "Kidnapped".


Der Bahnhof Rannoch und das benachbarte Hotel - der ehemalige Bahnhof - sind die einzigen Gebäude weit und breit. Der Zug hält kurz an, doch niemand steigt ein oder aus. Als die Gleise vor hundert Jahren hier verlegt wurden, mussten Tonnen von Sand und Schotter herangeschafft werden, sonst hätten die Gleise auf dem weichen Boden keinen Halt gehabt. Nördlich vom Bahnhof führt die Strecke über einen Stahlviadukt mit neun Pfeilern, der längsten Brücke bis Fort William, bevor sie scharf nach Nordwesten abbiegt und den Cruach Hill hinaufsteigt. Damit die Bahn auch im Winter verkehren kann, sind die Gleise an dieser Stelle von einem Schneefang überdacht. Am Gipfel liegt Corrour, mehr eine Haltestelle als ein Bahnhof - mit 430 Metern der höchste Punkt der Linie. Dicht neben den Gleisen grasen ein Dutzend Rehe in der Heide.


Bei Luibruaridh läßt der Zug die Wildnis hinter sich, die Landschaft wird grüner und sanfter. Tief unten liegt Loch Treig, doch die Strecke ist jetzt abschüssig, so dass der Zug schon bald auf Höhe des Ufers ist und dann am Fluss Spean entlangfährt. Das Tal wird bis zur Monessie-Schlucht immer schmaler. Die Wasserfälle bei Monessie seien, so heißt es in dem alten Eisenbahnführer, "die Verkörperung des Geistes der Highlands: stolz, turbulent und unbezähmbar".


Der Bahnhof Roy Bridge besteht lediglich aus einem kleinen Plastik-Unterstand in den Büschen. Rechts davon erhebt sich der Mullroy, auf dem im 17. Jahrhundert die letzte Schlacht der Clans in Schottland stattgefunden hat. Links vom Bahnhof, im "Keppoch House", lebte früher der Clan-Chef der McDonells von Keppoch. Als er 1663 starb, kamen seine beiden Söhne aus dem Internat in Frankreich zurück und luden ihre sieben Cousins zum Essen ins Haus ein. Die undankbaren Vettern brachen einen Streit vom Zaun, erdolchten die Brüder und rissen sich deren Erbe unter den Nagel. Als der Barde von Kippoch, der alte Ian Lom, davon hörte, besorgte er sich im nördlich gelegenen Invergarry Verstärkung, zog mit 50 Mann zum Keppoch House und schnitt den sieben Cousins die Köpfe ab. Dann ritt mit seiner Beute im Gepäck zurück nach Invergarry und warf die Köpfe unterwegs in einen Brunnen am Ufer des Loch Oich. Der Brunnen heißt heute "Tober-na'n-Ceann", der "Brunnen der Köpfe".


Die Gleise führen jetzt am Südufer des Spean nach Spean Bridge, wo man früher nach Fort Augustus umsteigen konnte. Die Strecke, die 1903 eröffnet worden war, wurde bereits drei Jahre später vorübergehend und 1933 endgültig geschlossen. Heute fährt ein Bus vom Bahnhof nach Invergarry und Fort Augustus. Die Gärten hinter den kleinen Reihenhäusern reichen bis an den Bahndamm, und kurz darauf tauchen schon die ersten Ausläufer von Fort William auf.


Fort William liegt Fuße des 1344 Meter hohen Ben Nevis, dem höchsten Berg Großbritanniens, der aber meist in Nebel gehüllt ist. Der Ort ist das bedeutendste Fremdenverkehrszentrum der westlichen Highlands, er ist sowohl mit dem Atlantik im Westen, als auch mit der Nordsee durch den Caledonian Canal verbunden. Mit dem Aufschwung des Tourismus ist Fort William rasch gewachsen. Reiseführer aus den siebziger Jahren geben Einwohnerzahlen von 5000 an, heute sind es mehr als doppelt so viele. Der Kopfbahnhof von Fort William ist die Endstation des Western Highlander. Um nach Mallaig an der Nordwestküste zu gelangen, muss man in einen Vorortzug umsteigen.


Als die Western Highland Railway nach Fort William 1894 fertiggestellt war, setzten schon bald Bemühungen ein, die Strecke nach Mallaig zu verlängern. "Damals stießen die Bedürfnisse der benachteiligten Regionen nicht auf vollkommen taube Ohren bei der Regierung", heißt es mit vorwurfsvollem Unterton in einer Eisenbahnbroschüre. Dennoch dauerte es mehr als vier Jahre, bis die 65 Kilometer lange Strecke durch Täler, über Flüsse und unter Bergen hindurch fertiggestellt war. Dabei wandte man neue Bautechniken an und benutzte einen damals relativ neuen Baustoff: Beton. Am 1. April 1901 nahm der Bahnverkehr den Betrieb auf.


Zwischen Fort William und Mallaig wohnten damals nur fünf Menschen pro Quadratkilometer, was viele am Sinn der Strecke zweifeln ließ. So wurden zunächst vor allem Fisch und Schlachtvieh mit der Bahn transportiert. An der Bevölkerungsdichte, so scheint es, hat sich bis heute nichts geändert, doch im Sommer ist in dem Zug kaum ein Sitzplatz frei, weil die Strecke bei Touristen sehr beliebt ist. Die Eisenbahngesellschaft setzt deshalb während der Saison auch Dampflokomotiven ein.


Nachdem der Zug den Caledonian Canal bei Bonavie überquert hat, lässt er die häßlichen Wohnsiedlungen und das Industriegebiet von Corpach schnell hinter sich und fährt für eine Weile am Ufer des Loch Eil entlang, bis er nach Westen in Richtung Glenfinnan abbiegt. Die Strecke ist ein Meisterwerk der Baukunst: Immer wieder mussten Tunnel in die Berge gesprengt und Viadukte über Täler und Gewässer gebaut werden. Der längste Viadukt bei Glenfinnan, wo der Finnan in den Loch Shiel mündet, ist 137 Meter lang und besteht aus 21 Bögen, die bis zu 33 Meter hoch sind. Südlich davon, am Ufer des Loch Shiel, befindet sich das Glenfinnan-Denkmal, das 1815 in Erinnerung an den zweiten Jakobiteraufstand im 18. Jahrhundert errichtet wurde.


"Fünf Minuten Zigarettenpause", ruft der Schaffner am Bahnhof Glenfinnan, denn im Zug darf nicht geraucht werden. Hinter Glenfinnan führt die Strecke bergauf durch zwei Tunnel und über zwei Viadukte, fällt danach steil zum Loch Eilt ab und verläuft bis zum unbemannten Bahnhof Lochailort - früher das größte Lager der Bahnarbeiter - durch eine "Landschaft von wilder Schönheit, der kalte Tinte niemals gerecht werden" könne, wie es in einem historischen Eisenbahnbuch heißt. Der "Staunfaktor" sei nirgendwo in Großbritannien größer als hier, behauptet auch der Zugschaffner und erklärt: "Der Staunfaktor ist die Landschaftsmenge geteilt durch die Aufnahmefähigkeit."


Kurz nach Lochailort überquert der Zug das Mamrie-Tal auf einem weiteren Viadukt, von wo aus man tief unten Loch-nan-Uamh, die Bucht der Höhlen, sehen kann. Vor genau 250 Jahren ankerte hier die französische Frigatte "Doutelle". An Bord empfing Charles Edward, der in Schottland liebevoll "Bonnie Prince Charlie" genannt wird, die Clanchefs und plante gemeinsam mit ihnen den Aufstand, der jedoch in einer verheerenden Niederlage und der Zerschlagung des Clansystems endete.


Die letzten zwölf Meilen bleibt die Eisenbahn in Küstennähe und fährt nach Arisaig und Morar schließlich hinab in den Sound of Sleat nach Mallaig, der Endstation. Mallaig ist ein verschlafener Fischerort, der im Sommer zum Leben erwacht: Er ist das Tor zu den Inneren Hebriden.

 

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