Das schnellste Spiel der Welt


Wenn Airy Cleere den Holzschläger über dem Kopf schwingt, sieht es aus, als wolle er mit einer Keule auf seinen Gegner losgehen. Aber er hat es nur auf den kleinen Lederball, eine Art


Schlagball, abgesehen. Beide Spieler versuchen, den Ball, der hoch durch die Luft saust, mit ihren Schlägern zu stoppen. Cleere stellt sich dabei geschickter an, fängt den Ball ab und


balanciert ihn in vollem Lauf auf dem Schläger, fast wie beim Eierlaufen. Doch dann lässt er den Ball kurz auftippen und schlägt ihn mit Wucht in die gegnerische Spielhälfte.


Hurling, so heißt dieser irische Nationalsport, ist das schnellste Feldspiel der Welt. Dabei versuchen 15 Spieler pro Mannschaft, den Ball ins gegnerische Tor zu befördern. Sie dürfen dazu die Hand, den Fuß oder den Eschenholzschläger benutzen, der einen Meter lang und am Ende breit abgeflacht ist. Ein Tor zählt drei Punkte, ein Schuss über die Querlatte zwischen den verlängerten Pfosten hindurch gibt einen Punkt. Diese Regel sorgt dafür, dass Hurling für die Torhüter recht frustrierend sein kann: Sie sind zum Zuschauen verurteilt, wenn der Ball in zehn Meter Höhe über sie hinweg schwebt - zum Punktgewinn für den Gegner. Torrichter in langen, weißen Kitteln wachen mit Argusaugen über die Flugbahn und signalisieren einen Punktgewinn mit Fähnchen - grün für ein Tor, weiß für einen Punkt.


Das Spiel ist nicht ungefährlich, so mancher Spieler hat dabei seine Vorderzähne eingebüßt. Heutzutage ergreifen die meisten jedoch Vorsichtsmaßnahmen. "Ich trage einen Helm und einen Mundschutz, und ich besitze noch alle Zähne", sagt der 18-jährige Cleere, der das Spiel seit elf Jahren betreibt. Kinder müssen beim Hurling einen Helm tragen, Erwachsenen ist es freigestellt, doch der Kopfschutz setzt sich immer mehr durch. Das brachte den Spielern den Vorwurf eines alten Hurling-Stars vergangener Zeiten ein, sie seien "verweichlichte Angsthasen, die lieber Halma spielen sollten".


Wenn Frauen Hurling spielen, heißt es Camogie und wird auf einem kleineren Feld mit zwölf Spielerinnen pro Mannschaft ausgetragen. Ansonsten unterscheiden sich die Regeln nicht, abgesehen von den Röckchen, die der konservative Verband, die Gaelic Athletic Association (GAA), den Spielerinnen als Sportbekleidung vorschreibt.


Hurling und Camogie sind nicht nur die schnellsten, sondern auch die ältesten Ballspiele der Welt, sie wurden schon vor mehr als 2000 Jahren gespielt. Im "Book of Leinster", einem epischen Sagenkreis aus dem 12. Jahrhundert, wird ein Hurlingspiel aus dem Jahre 400 v. Chr. beschrieben: "Dreimal fünfzig Jünglinge an einem Ende des Feldes und einer allein am anderen Ende, und der eine Jüngling besiegte die dreimal fünfzig Jünglinge am Tor, indem er jeweils den Ball parierte und zurückschlug. Und als sie dann im Spiel einander die Kleider vom Leib rissen, nahm er ihnen dreimal fünfzig Gewänder ab, und ihnen gelang es nicht einmal, ihm die Fibel seines Umhangs abzureißen."


Ganz so rauh geht es inzwischen nicht mehr zu, und Umhänge tragen die Spieler auch nicht mehr. Airy Cleere tritt im blauen Trikot mit einem grünen Diagonalstreifen an, den Farben seines Clubs St. Sylvester. Der Namensgeber des Vereins war im 4. Jahrhundert Papst und ist der Schutzpatron der Kirche von Malahide, der Heimat des Vereins. Malahide, ein Dubliner Vorort, war bis in die sechziger Jahre ein Dorf. Airy Cleere hat mit sieben Jahren in einer Straßenliga mit Hurling angefangen. "Der Verein hat das organisiert, um Nachwuchs heranzuziehen", sagt er. Cleere trat dem Club danach bei, bis zum vorigen Jahr hat er auch in der Dubliner Juniorenauswahl gespielt, doch dann musste er sich auf die Abiturprüfung konzentrieren. Hurling spielt er inzwischen nur noch für St. Sylvester, aber lieber jagt er für den Verein dem Ball beim Gaelic Football nach.


"Ein wunderbares Spiel", sagt er, "nicht so langweilig wie Fußball, wo man seinen Gegner kaum berühren darf." Beim gälischen Fußball, dem zweiten irischen Nationalsport, zählt ein Tor ebenfalls drei Punkte, ein Schuss über die Latte einen Punkt. Der Ball darf mit der Hand gespielt, muss jedoch mit dem Fuß vom Boden aufgenommen werden. Über die Behandlung der Gegenspieler gibt es strenge Vorschriften, übergroße Härte ist verboten, was unbedarfte Zuschauer kaum für möglich halten. Ein englischer Journalist bezeichnete diese Sportart als "wohlorganisiertes Gemetzel". Rugby erscheint im Vergleich zum Gaelic Football als Sportart für Priesterschüler. Ein englischer Beobachter sagte einmal: "Rugby ist ein Spiel für Raufbolde, das von Gentlemen gespielt wird. Fußball ist ein Spiel für Gentlemen, das von Raufbolden gespielt wird. Gälischer Fußball ist ein Spiel für Raufbolde, das von Raufbolden gespielt wird."


Im Clubhaus von St. Sylvester geht es jedoch gesittet zu. Es ist ein unscheinbares Reihenhaus im Zentrum Malahides. Im ersten Stock gibt es eine Bar, die größer ist als so mancher Pub in der Innenstadt. Die Getränke sind etwas billiger als in den Kneipen, und deshalb haben eine ganze Reihe von Orgainsationen – Lehrer, Polizisten, politische Parteien – ihre eigenen Clubs. Die Wände des St. Sylvester-Clubs sind mit weinroten Paneelen und alten Mannschaftsfotos dekoriert. Den Verein gibt es seit 1903, so steht es stolz in den Annalen. "In Wirklichkeit ist der Club 1974 neugegründet worden", erzählt der 68-jährige Brian Colgan, der damals dabei war. "St. Sylvester ist ein typischer Dorfclub, er hat ganze Mannschaften durch Emigration verloren, man musste immer wieder von vorn beginnen."


1974 bekam man wieder mal eine Mannschaft zusammen, weil Dublin nach elf erfolglosen Jahren die irische Meisterschaft gewonnen hatte und das Spiel danach auch in den Vororten boomte. 1982 kauften ein paar wagemutige Funktionäre das Clubhaus. "Damals war es eine Ruine, und man benötigte viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie es einmal aussehen könnte", sagt Colgan. Die Funktionäre gingen von Haus zu Haus und erbettelten zinslose Darlehen in Höhe von hundert Pfund, rückzahlbar nach zehn Jahren. "Wir haben 50.000 Pfund auf diese Weise zusammenbekommen", sagt Colgan, "und als die zehn Jahre um waren, hat die Hälfte der Gläubiger auf das Geld verzichtet, die Leute sind statt dessen Mitglieder geworden."


Damit man nie wieder wegen Nachwuchsmangel den Spielbetrieb einstellen muss, hat der Club Padraig McCarthy eingestellt. Er ist Jugendtrainer und Assistenzcoach der Dubliner Auswahl. "Ich besuche regelmäßig die Schulen in Malahide und versuche, die Schüler für die traditionellen Sportarten zu interessieren. Früher haben die Mönche vom Orden der Christian Brothers in den Schulen Sport unterrichtet, aber heutzutage sind 90 Prozent des Lehrpersonals Frauen, und die bringen den Kindern kein Hurling oder Football bei."


McCarthy ist 35, bis voriges Jahr hat er selbst noch gespielt, und man sieht es ihm an: Er ist groß und breitschultrig, hat kurze blonde Haare und ein kantiges Kinn. "Ich bin zu dick geworden", findet er aber und klopft sich auf den Bauch. "Meine Freundin zeigt immer auf das Mannschaftsfoto von 1987, das im Flur des Clubhauses an der Wand hängt. Damals war ich rank und schlank." In jenem Jahr war er Mannschaftskapitän.


Was fasziniert ihn am gälischen Fußball? "Es ist im Blut", sagt McCarthy. "Ich bin Ire, und der Nationalismus spielt eine große Rolle. Man gibt alles für seine Pfarrgemeinde, darin drückt sich der Stolz für die Heimat aus." Auf dem Land spiele das noch eine weitaus größere Rolle als am Rande der Großstadt, sagt McCarthy: "Uns ist es zwar wichtig, aber auf dem Land ist es eine Sache von Leben und Tod. Dort ist die Gemeinde der Mittelpunkt des Daseins."


Auf den Zuschauerrängen geht es trotz aller Begeisterung friedlich zu, eine räumliche Trennung der gegnerischen Fans ist auch bei den Endspielen im Hurling und Football, die stets am ersten und dritten Sonntag im September ausgetragen werden, nicht nötig: Man tauscht Souvenirs und vor allem Alkoholika bereitwillig untereinander aus.


Trotz der großen Beliebtheit der traditionellen Sportarten springt finanziell für die Spieler nichts heraus: Hurling und gälischer Fußball sind reiner Amateursport. Bis ins 18. Jahrhundert waren diese Spiele in Irland weit verbreitet. Doch aufgrund der ökonomischen Verhältnisse, vor allem der Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts, gingen die Volkssportarten fast völlig unter. Erst im Zuge der nationalen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts setzte ein erneuter Aufschwung ein. 1884 gründeten sieben Männer die GAA, deren Schirmherrschaft von Erzbischof Dr. Croke übernommen wurde.


Nach ihm wurde das Stadion in dem Nord-Dubliner Viertel Drumcondra benannt, in dem alle großen Spiele ausgetragen werden - freilich nur in den traditionellen Sportarten. Für andere Spiele bleibt der Croke Park verschlossen. Vor allem die englischen Sportarten Rugby, Fußball, Hockey und Cricket werden abgrundtief verachtet.


Bis 1971 war es den GAA-Mitgliedern streng verboten, sich diese "barbarischen Spiele" auch nur anzusehen, geschweige denn, sie selbst zu spielen. Als die GAA 1993 staatliche Zuschüsse für die Erweiterung des Croke Park beantragte und man ihr daraufhin nahelegte, die Stadiontore auch für den immer populärer werdenden Fußball zu öffnen, fragte GAA-Präsident Michael Loftus entsetzt: "Fußball? Eine Garnisons-Sportart in unserem Stadion? Die GAA hat soviel für die Entwicklung der irischen Gesellschaft getan, dass sie ein Recht auf staatliche Zuschüsse ohne Vorbedingungen hat."


Der Verband bekam das Geld. Um ein für alle Mal die Bedeutung der GAA für die irische Gesellschaft und die Unabhängigkeit Irlands zu demonstrieren, richtete man unter der neuen Tribüne ein Sportmuseum ein. Ausgestellt sind alte Regelhefte, der Pokal für die irische Meisterschaft von 1896, historische Trikots und Medaillen sowie ein keltisches Hochkreuz aus dem 10. Jahrhundert, auf dem Davids Kampf gegen den Löwen dargestellt ist. Rechts in der Ecke des Kreuzes sind, mit etwas gutem Willen, ein Hurlingschläger und ein Ball zu erkennen. War David ein Hurling-Spieler? In einer anderen Vitrine ist eine Camogie-Uniform aus dem Jahr 1904 ausgestellt: Die Damen mussten damals einen bodenlangen schwarzen Rock mit hochgeknöpfter weißer Bluse tragen. Heutzutage würden Frauen so etwas höchstens zum Opernball anziehen.


Aber es geht im Museum auch um die politische Geschichte Irlands, denn Sport und Politik gehörten seit Gründung der GAA eng zusammen. Polizisten, Gefängniswärter und Soldaten durften der GAA nicht beitreten, denn sie waren fast ausnahmslos auf Seiten der englischen Besatzer. Da die Bezirksorganisationen der GAA, ebenso wie die Bewegung für die gälische Sprache oder die Liga für die Rechte der Landpächter, früher Zentren des Widerstands waren, sollte eine Unterwanderung durch britische Agenten verhindert werden. Bereits 1890 hatte der englische Geheimdienst einen Agenten abgestellt, der sämtliche GAA-Veranstaltungen besuchen und darüber Bericht erstatten musste. Der Verdacht des Geheimdienstes war nicht unbegründet: Als irische Rebellen zu Ostern 1916 einen Aufstand gegen die britische Besatzung anzettelten, nahmen viele Spieler gälischer Klubs daran teil.


Die britische Regierung richtete die Anführer der Rebellen hin, und dieses unbarmherzige Vorgehen empörte die Bevölkerung so sehr, dass die überlebenden Aufständischen großen Zulauf erhielten. 1920 kam es zum Unabhängigkeitskrieg, an dem wieder viele GAA-Mitglieder beteiligt waren. Spiele fanden zu dieser Zeit nur noch sporadisch statt. In der Nacht zum 21. November 1920 tötete die Untergrundarmee IRA in einer Nacht- und Nebelaktion 14 britische Agenten. Der Vergeltungsschlag traf am nächsten Tag nicht zufällig den Croke Park. Dort sollte am Nachmittag die Football-Mannschaft aus Tipperary in einem Freundschaftsspiel gegen Dublin antreten. Kurz nach Spielbeginn flog eine britische Militärmaschine tief über das Stadion und schoß eine rote Leuchtrakete ab. Das war der Angriffsbefehl: Im Nu kletterten die Soldaten über die Mauer an beiden Enden des Stadions und eröffneten das Feuer, zunächst aus Pistolen, dann aus einem Maschinengewehr, das am Eingang aufgebaut worden war. 13 Menschen starben, darunter der Kapitän des Tipperary-Teams. Der Tag ist als "Bloody Sunday" in die Geschichte eingegangen.


Einmal im Croke Park anzutreten ist der Traum eines jeden Spielers. Airy Cleere hat es geschafft, er spielt für die Dubliner Auswahl im Viertelfinale der Juniorenmeisterschaft gegen die Grafschaftsauswahl von Westmeath. Cleere ist Mannschaftskapitän, seine Mannschaft ist favorisiert. Am Ende reicht es dennoch nicht zum Sieg, obwohl sein Team zwischenzeitlich mit fünf Punkten Vorsprung führte. "Macht nichts", sagt Cleere, aber man merkt ihm an, dass er sich ärgert. "Im nächsten Jahr versuchen wir es wieder."


 

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