Der jüdische Friedhof von Limerick


Dem Gebäude merkt man nicht mehr an, dass es einmal eine Synagoge war: ein kleines, graues Reihenhaus mit sechs Fenstern und einer grünen Eingangstür. Links davon ist eine zweite grüne Tür, hinter der ein Abstellraum liegt. Das Haus in der Wolfe Tone Street Nummer 63 im westirischen Limerick gehört Sylvia und Michael Hogan. Beide sind Ende vierzig, das Haus haben sie von Michaels Vater geerbt.

„In den zwanziger und dreißiger Jahren war das Haus in Wohnungen unterteilt“, sagt Michael Hogan. „Mehrere Familien lebten unter diesem Dach. Als mein Vater das Haus in den sechziger Jahren kaufte, war es eine Ruine. Er ließ die Vorderfront er­neuern und errichtete hinten einen zweistöckigen Anbau mit Küche. Der Rest ist noch so, wie es damals war, als die Juden in der Straße wohnten.“


Damals hieß die Straße Collooney Street, ihr Spitzname war „Little Jerusalem“. Die meisten Juden waren 1881 aus Litauen gekommen, nach dem Attentat auf den russi­schen Zar Alexander II., das ein Judenpogrom auslöste. Zehn Jahre zuvor hatten, so ist im Stadtarchiv nachzulesen, nur zwei Juden in Limerick gelebt, durch die Flücht­linge aus Litauen stieg ihre Zahl innerhalb weniger Wochen auf 130 an. Die meisten von ihnen verkauften Bücher, Gemälde und Kleidung von Tür zu Tür, manche auch Lebensmittel, einige akzeptierten dafür Ratenzahlung.


Heinrich Böll bezeichnete Limerick im Irischen Tagesbuch als „frommste Stadt Ir­lands“. Die „Bruderschaft von Limerick“, eine vom katholischen Redemptoristen-Or­den 1867 gegründete Gemeinschaft, bestimmte bis in die sechziger Jahre des 20. Jahr­hunderts das religiöse und soziale Leben der Stadt. Der Schriftsteller Mike Finn sagte: „Es war immer eine sehr konservative und eine sehr katholische Stadt. Die Bruder­schaft war die größte der Welt, und sie wollte sicher gehen, dass kein unabhängiges Denken aufkam. Sie überwachten Kinos und Theater und die Freizeitgestaltung der Menschen.“


Wer der Bruderschaft beigetreten war, musste auch ihre Versammlungen besuchen. Wer sie versäumte, musste einen guten Grund dafür haben, der überprüft wurde. Im Mai 1903 beging ein 16-jähriger Selbstmord, weil er wegen unentschuldigten Fehlens aus der Bruderschaft ausgeschlossen werden sollte. 1880 hatte die Bruderschaft 4.200 Mitglieder, dreißig Jahre später waren es bereits über 7.000. Die Versammlungen fanden in der Church of St. Alphonsus Liguori statt, einer riesigen Kirche im goti­schen Stil, die von den Redemptoristen zwischen 1858 und 1865 in der Henry Street erbaut worden war.


Anfang 1904 erhielt die Bruderschaft einen neuen Direktor: John Creagh. Er war 1870 in Limerick auf die Welt gekommen und wurde von den Christian Brothers erzogen, die schon damals für ihre brutalen Methoden bekannt waren. Nach seiner Ordination 1895 lehrte Creagh in England und in Belfast, bevor er nach Limerick zurückkehrte. Kurz nach seiner Ernennung zum Direktor, am 11. Januar, hielt er in der Redemptoristenkirche seine Predigt, die das Leben der Juden von Limerick verän­derte. Zwar hatte es schon in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhun­derts hin und wieder antijüdische Aktionen gegeben, doch das war nur ein Vorge­schmack auf das, was nach Creaghs Predigt über die Juden hereinbrach.


Er beschimpfte sie als „gottverfluchtes Volk“, die in „Samt und Seide gehen, während vor ihrer Synagoge die Armen barfuß herumlaufen“. Die Juden suchten ihre Opfer unter gutgläubigen Hausfrauen, wetterte Creagh, denn „der Jude hat eine süße Zun­ge, wenn er möchte, und drängt ihnen seine elende Ware auf.“ Die Hausfrauen müss­ten die Raten heimlich zahlen, damit ihre Ehemänner nicht merkten, dass sie sich mit Juden eingelassen hatten.


„Heutzutage wagen sie es nicht mehr, Christenkinder zu entführen und zu erschlagen“, beschloss Creagh seine Predigt, „aber sie zögern nicht, sie einem noch langwierigeren und schlimmeren Märtyrertum auszusetzen, indem sie ihnen die Kleider vom Leib und den Bissen aus dem Mund stehlen. Sie haben anderen Völkern das Blut ausgesaugt, doch diese Völker wehrten sich und warfen sie hinaus, und nun sind sie in unser Land gekommen, urn sich wie Blutegel an uns zu klammern und unser Blut zu saugen.“


Die Predigt verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Kirche lag nicht weit von der Collooney

Street entfernt, und die Mitglieder der Bruderschaft zogen auf dem Heimweg durch die Straße, warfen Fensterscheiben ein und attackierten die Juden, die sich vor die Tür wagten. In den folgenden Tagen kam es immer wieder zu Übergriffen. In seiner Not wandte sich Rabbi Elias Bere Levin an verschiedene Politiker. Levin war 1882 als Rabbi nach Limerick versetzt warden, er war damals erst zwanzig Jahre alt.


„Unter den Politikern, die Levin angeschrieben hatte, war“, so Michael Hogan, „auch Michael Davitt.“ Dieser entstammte einer Tagelöhnerfamilie, für seine radikalen Akti­vitaten für die irische Unabhängigkeit war er zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden. 1903 hatte ihn das Hearst-Zeitungsimperium nach Kishineff in Russland ge­schickt, urn über das Judenpogrom zu berichten, bei dem innerhalb von zwei Tagen 45 Juden ermordet und 600 verletzt worden waren. „Davitt antwortete Le­vin sofort“, sagt Hogan und kramt eine Kopie des Briefes aus dem Wohnzimmer­schrank. Die Iren, so schrieb Davitt in dem Brief, hatten in ihrer Geschichte niemals Juden verfolgt. Durch Creagh habe sich das geändert. Statt eine „feige Vendetta“ gegen die Juden zu predigen, solle sich der Pfarrer lieber um die englische Herr­schaft in Irland kümmern, die zur Verarmung der Bevölkerung geführt habe.


Die Hoffnung der Juden, Davitts Intervention konne die Lage in Limerick beruhigen, währte nur kurz: Eine Woche nach der ersten Predigt stieg Creagh erneut auf die Kanzel. Zwar rief er dazu auf, von Gewalt gegen Juden Abstand zu nehmen, weil es der Sache schaden würde, aber dann predigte er das Gegenteil. Ziel der Juden sei es, sagte Creagh, das irische Volk zu versklaven, und das sei ein schlimmeres Schicksal als das jener Iren, die von Cromwell als Sklaven nach Barbados verschleppt worden seien: „Wir müssen uns verteidigen, bevor sie uns den Hals umdrehen.“


Creaghs Hass auf die Juden rührte offenbar daher, dass er sie dafür verantwortlich machte, gemeinsam mit den Freimaurern 200 Redemptoristen aus Frankreich vertrieben zu haben. Am Ende der Predigt rief Creagh zum Boykott der Juden auf, und die Gemeinde gehorchte. Die christliche Bevölkerung kaufte nicht mehr bei den Juden, sie stellte die Ratenzahlung ein, in den Schulen wurden die jüdischen Kinder isoliert, in manchen Geschäften Juden nicht mehr bedient.


Levin wandte sich an den katholischen Bischof von Limerick, Edward Thomas O'Dwyer. Er empfing die jüdische Abordnung zwar nicht, ließ aber durch seinen Sekretär ausrichten, man solle sich eine Weile ruhig verhalten und keinesfalls die Presse einschalten. Die Juden befolgten den Rat in der Erwartung, der Bischof werde in der Zwischenzeit seinen antisemitischen Priester zur Ordnung rufen. Doch der Boy­kott ging weiter.


Creagh war nicht der einzige, der den Boykott forcierte, andere Priester unterstützten ihn und drohten Leuten mit Vertreibung aus der Gemeinde, falls sie bei Juden kauf­ten. Auch Arthur Griffith, der 1905 Sinn Fein gründete, verteidigte Creagh: „Wir füh­len mit unserem Landsmann, dem Handwerker, dem der Jude seinen Lebensunterhalt vorenthält, wir fühlen mit unserem Landsmann, dem Händler, dem der Jude durch seine skrupellosen Methoden das Geschäft ruiniert, wir fühlen mit unserem Lands­mann, dem Bauern, den der Jude in die Hände der Wucherer, ins Arbeitshaus oder außer Landes treibt. Unser Mitgefühl für die wöchentliche Prozession unseres eige­nen Fleisch und Blutes, das Irland verlassen muss, lässt kein Mitgefühl mehr übrig für die wöchentliche Prozession der Fremden, die in unser Land kommen.“


Leute wie Griffith schürten die Stimmung gegen die Juden, so dass es immer häufiger zu Gewalttaten kam. Im April 1904 wurde Levin von einer Gruppe Jugendlicher attackiert und von einem Stein getroffen. Der Übeltater, der 15-jährige John Raleigh, wurde festgenommen und zu einem Monat Haft verurteilt. Das Urteil löste Empörung aus, selbst der Stadtrat setzte sich, allerdings erfolglos, für Raleigh ein. Als der nach einem Monat aus dem Dubliner Mountjoy-Gefängnis nach Limerick zurückkehrte, wurde er am Bahnhof von einer großen Menschenmenge begeistert empfangen und durch die Stadt getragen. Sie überreichten ihm eine silberne Taschenuhr mit Kette. Raleighs Verurteilung, die eine Abschreckung sein sollte, erzielte nicht die vom Rich­ter gewünschte Wirkung, die Angriffe aut die Juden in der Collooney Street gingen weiter. Zwar kam niemand dabei urns Leben, aber eine ganze Reihe der Opfer musste ins Krankenhaus eingeliefert werden.


„Hier wohnte David Weinronk“, erzählt Michael Hogan und zeigt auf ein Reihenhaus mit Souterrain. „Er ging eines Abends mit Louis Goldberg spazieren, als die beiden von einem Mann mit einer Keule zu Boden geschlagen wurden. Weinronk erlitt ei­nen Beinbruch, Goldberg kam mit Kopfverletzungen ins Krankenhaus. Der Täter wur­de für verrückt erklärt und ins Heim eingewiesen, dort aber schon am nächsten Tag für gesund befunden und freigelassen.“


Hogans Haus, die ehemalige Synagoge, ist 1826 erbaut warden. Ein paar Türen weiter steht das Haus Nummer 74. „Hier wohnte Margaret Kaitcher“, sagt Michael Hogan. „Ihre Eltern waren Eisa Reininger und Berish Hofler, die 1938 vor den Nazis aus Österreich fliehen mussten. Zwei Wochen nach ihrer Ankunft in Limerick buchte Margaret ein Zimmer im Hotel Crescent in der O'Connel1 Street und erschoss sich. Die Beerdigungszeremonie wurde vom letzten Rabbi in Limerick, Simon Gewurtz, durchgeführt. Reininger ist in einem anonymen Grab aut dem jüdischen Friedhof Kilmurry am Stadtrand Limericks beerdigt.“


Der Friedhof, der jahrzehntelang vernachlässigt warden war, ist 1990 vom Stadtrat restauriert worden. Die Neueröffnung wurde mit einem ökumenischen Gottesdienst gefeiert. Bei der Friedhofsweihe 1902 gab es einen heftigen Streit. Zu dem Zeitpunkt war die jüdische Gemeinde bereits tief gespalten. Die Gründe dafür sind bis heute unklar. Der Historiker Des Ryan vermutet, dass es ums Geldverleihen ging, eine Pra­xis, die der Chefrabbiner in Großbritannien, Herman Adler, bei seinen Besuchen in Irland immer wieder angeprangert hatte. Amtsrichter Adams vermerkte dagegen 1902 in seinen Akten, dass der Streit mit einem „obskuren rituellen Punkt“ zu tun hatte.


Wie dem auch sei – begonnen hatten die Auseinandersetzungen um 1895, das geht aus Zeitungsartikeln und Gerichtsakten hervor, die Michael Hogan gesammelt hat. Beide Parteien trugen ihre Streitigkeiten häufig mit den Fäusten aus. Sie waren darüber hinaus recht klagefreudig und füllten die Leserbriefseiten der Lokalblätter. Die Fraktion, die sich von der „Hebrew Congregation, Limerick“ losgesagt hatte und die „Limerick Hebrew Congregation“ gründete, richtete zunächst ein Gebetshaus in der Collooney Street Nummer 18 ein, einem kleinen, zweistöckigen Haus neben Charlie Malones Kneipe. Im Januar 1901 eröffnete die Gruppe ihre eigene Synagoge mit eigenem Rabbi – neun Häuser von der anderen Synagoge entfernt, in der Collooney Street 72. Der Antrieb dafür kam von Louis Goldberg, einem Zionisten, dessen weit­läufige Verwandtschaft in Limerick mindestens zehn Familien umfasste. Er begründete die Abspaltung im Limerick Leader damit, dass man „nichts mit Geldverleihern“ zu tun haben wolle.


Die Gruppe um Rabbi Elias Levin erwarb im Juni 1902 ein Stück Land in Kilmurry, um es als Friedhof zu nutzen. Das führte zum Streit mit Louis Goldberg und dessen Anhängern, der in den Zeitungen ausgetragen wurde. Goldberg schrieb an den Lime­rick Chronicle, beide Fraktionen hatten gemeinsam den Friedhof geplant und Geld gesammelt, Levins Leute dann jedoch heimlich das Grundstück erworben und auf ihren Namen ins Grundbuch eingetragen. Das Geld, so behauptete Goldberg, woll­ten sie mit Hilfe ihrer christlichen Nachbarn aufbringen. „Wenn sie die Hälfte der jüdischen Gemeinde ausschließen“, schrieb er, „sollten sie sich schämen, Außenste­hende um Hilfe zu bitten.“ Die Gruppe um Levin schimpfte Goldberg in der Antwort an den Limerick Chronicle einen Lügner und schrieb, dessen Fraktion habe keinen Penny zum Kauf des Grundstücks beigesteuert.


Als Creagh seine antisemitische Predigt hielt, war die jüdische Gemeinde noch im­mer tief gespalten. Der Boykott traf beide Fraktionen. Nach zwei Jahren waren über achtzig Juden weggezogen, weniger als vierzig hielten in Limerick aus, darunter Rab­bi Levin, der erst 1911 nach Leeds ging, wo er 1936 starb. Die katholische Hierar­chie kam 1906 zu der Einsicht, religiose Verfolgung habe keinen Platz in Irland. Creagh wurde am 12. Mai auf die Philippinen und später nach Australien versetzt, wo er abermals für eine Kontroverse sorgte. Als Zeuge in einem Mordprozess sagte er zugunsten des Angeklagten aus, eines weißen Viehhändlers. Es sei üblich, sagte Creagh, die als Viehtreiber eingesetzten Ureinwohner mit einer Ladung Schrot in die Beine zur Ar­beit zu ermuntern, der Tod eines dieser Viehtreiber sei ein Versehen gewesen. Creagh kehrte nie mehr in seine Heimatstadt Limerick zurück, er starb 1947 in Neuseeland.

 

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