„Paradise lost“ - Die Geschichte von Belfast Celtic


Als das Fußballspiel abgepfiffen wurde, rannte Harry Walker zum Tor und griff sich die Eisenstange, an der das Tornetz befestigt war. Er schwang die schwere Stange wie eine Keule über dem Kopf, um sich und seine Mannschaftskameraden gegen die Angriffe der Zuschauer zu verteidigen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie die rettende Kabine erreicht hatten. Als Walker sich umsah, bemerkte er, dass Mittelstürmer Jimmy Jones fehlte.

 

Jones stand beim Schlusspfiff an dem Ende des Platzes, das am weitesten vom Kabinentrakt entfernt war. Während er noch die Hand seines Gegners schüttelte, schlug ihm jemand von hinten auf den Kopf. Er flüchtete an den Spielfeldrand, wo die Polizei während des Spiels Aufstellung genommen hatte, doch die Beamten waren verschwunden. Die Menschenmenge holte Jones ein und zerrte ihn über eine Mauer auf die Tribüne. Dort sprang einer von ihnen immer wieder auf Jones‘ Bein, so dass er einen komplizierten Trümmerbruch erlitt. Wäre ihm nicht ein Freund, der sich unter den Zuschauern befand, zu Hilfe gekommen, hätten sie Jones an diesem Nachmittag umgebracht.

 

Es war der zweite Weihnachtsfeiertag 1948. Belfast Celtic, das Team von der katholischen Falls Road, musste im Windsor Park antreten, dem Stadion des protestantischen Vereins FC Linfield. Das Spiel endete unentschieden 1:1, doch davon sprach hinterher niemand mehr. Nachdem Linfield kurz vor Schluss den Ausgleich erzielt hatte, gerieten die 25.000 Zuschauer völlig aus dem Häuschen. Als auch die uniformierten Polizisten ihre Mützen vor Freude in die Luft warfen, wurde den Celtic-Spielern klar, dass sie von der Polizei keinen Schutz erwarten konnten.

Schon vor dem Spiel hatten sie schlimme Befürchtungen. Beim Hinspiel im Celtic Park, der bei den Celtic-Fans „Paradise“ hieß, war es zwei Monate zuvor zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen dem Celtic-Torwart Kevin McAlinden und dem Linfield-Mittelstürmer Billy Simpson gekommen. Simpson hatte McAlinden getreten. Der rächte sich, indem er Simpson mit einem Faustschlag zu Boden streckte. Alle sahen es, nur der Schiedsrichter nicht. „Damit war der Grundstein für die Krawalle beim Rückspiel im Windsor Park gelegt“, meint der damalige Celtic-Kapitän Harry Walker. Beim Rückspiel im Windsor Park entschied er nach gewonnener Seitenwahl so zu spielen, dass die eigene Spielhälfte beim Abpfiff näher an den Kabinen lag. Dann gab es in der ersten Halbzeit einen unabsichtlichen Zusammenstoß zwischen Jones und dem Linfield-Mittelfeldspieler Bob Bryson, der sich dabei den Knöchel brach. Linfield-Geschäftsführer Joe Mackey sagte in der Halbzeitpause über Lautsprecher an, dass sich Bryson das Bein gebrochen habe. Dadurch heizte er die ohnehin aufgeladene Stimmung noch mehr an.

 

Jones hätte fast das Bein amputiert werden müssen. Zwar heilte es nach vielen Monaten, doch es blieb kürzer als das andere Bein. An eine Karriere bei einem großen englischen Verein, die er sich erträumt hatte, war nicht mehr zu denken. Der zweite Weihnachtsfeiertag 1948 war auch das Ende des besten nordirischen Fussballvereins aller Zeiten. Belfast Celtic stellte nach der Saison den Spielbetrieb ein. Die Mannschaft ging noch auf eine Abschiedstornee durch die USA, wo sie Schottland, den damaligen britischen Meister, mit 2:0 besiegte, dann war es vorbei. Die Fans glaubten zunächst, dass der Club nach ein, zwei Jahren zurückkehren würde, doch es war ein Abschied für immer. Einmal, zum 20. Jahrestag des fatalen Spiels im Windsor Park, kamen die Celtic-Spieler noch einmal im Celtic Park zu einem Benefizspiel für die Familie eines verstorbenen Teamgefährten zusammen. Dabei schoss Jimmy Jones alle sieben Tore.

Celtic, 1891 gegründet, gewann die irische Meisterschaft 14 Mal, holte acht Mal den Pokal, elf Mal die Städtemeisterschaft sowie zehn Mal den Gold Cup. 1940 blieb Celtic in 36 Spielen ungeschlagen. In der Gegend um die Falls Road, einem benachteiligten katholischen Viertel nahe der Innenstadt, wurde Celtic schnell zur Legende, und auch mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Klubs bleibt er unvergessen.

 

Die Popularität des Verbandsfußballs in Belfast hängt mit den sozialen und politischen Umständen zusammen. Die ersten Katholiken, die im 18. Jahrhundert in die Stadt gekommen waren, wurden von ihren protestantischen Nachbarn noch wohlwollend aufgenommen. Doch nach der Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts, als viele Katholiken aus den ländlichen Gegenden nach Belfast flohen, begann der Konkurrenzkampf um die Arbeitsplätze, die Intoleranz nahm immer mehr zu.

Belfast spielte eine Schlüsselrolle in der industriellen Entwicklung Großbritanniens. Die Schiffswerft Harland and Wolff war die größte der Welt und beschäftigte 25.000 Menschen. Eisengießereien und Seilfirmen florierten, und die Baumwollspinnereien hatten sich nach dem Zusammenbruch ihres Marktes um 1830 auf Leinen umgestellt und versorgten die ganze Welt mit ihrem Produkt. 60.000 Frauen arbeiteten in diesem Industriezweig, doch die Bedingungen waren erschreckend: Die Frauen, die obendrein schlecht bezahlt wurden, waren ständig der Feuchtigkeit ausgesetzt. Ihre Lebenserwartung lag bei vierzig Jahren.

 

Die Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten entluden sich nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Fußballstadien, nachdem die ersten Vereine entlang der politischen und konfessionellen Linien gegründet worden waren. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte dabei der FC Linfield. Während man bei Celtic nicht auf den Taufschein achtete, durften bei Linfield bis 1991 keine Katholiken spielen. Das Verbot wurde dann nur deshalb aufgehoben, weil der internationale Verband FIFA darauf bestand. Einmal, Ende der achtziger Jahre, hatte Linfield einen Schwarzafrikaner eingekauft, der wegen seiner Spielkunst schnell zum Publikumsliebling wurde. Das ging solange gut, bis herauskam, dass er katholisch war. Eine solche Niedertracht hatte man einem Schwarzen offenbar nicht zugetraut, bei der Vertragsunterzeichnung hatte ihn niemand nach seiner Religion gefragt. Der Vertrag wurde umgehend aufgelöst.

 

Anfang des 20. Jahrhunderts verschärfte sich die politische Situation, weil die Unabhängigkeitsbewegung an Boden gewann. Der Kampf zwischen den Rebellen und den englischen Besatzungstruppen sowie den unionistischen Protestanten, der 1920 ausbrach und mit der Teilung der Insel endete, wurde in Belfast besonders brutal ausgetragen. Innerhalb von zwei Jahren wurden mehr als 450 Menschen ermordet, die Mehrheit davon Katholiken, obwohl sie nur ein Viertel der Bevölkerung ausmachten. Die fast ausschließlich protestantische Polizei untersuchte die Morde kaum, die Beamten waren bei einigen der schlimmsten Massaker sogar selbst die Täter. Unter diesen Umständen war an Fußball auf der Falls Road nicht zu denken, denn Spieler und Zuschauer wären automatisch zu Angriffszielen geworden. Belfast Celtic stellte den Spielbetrieb für vier Jahre ein.

 

Als der Verein zurückkehrte, waren Land und Fußball-Liga geteilt. Celtic und Linfield dominierten die nordirische Liga, bis zum Zweiten Weltkrieg gewann Celtic zehn Mal die Meisterschaft, Linfield vier Mal. Als die Liga wegen des Krieges vorübergehend aufgelöst und bis 1947 durch eine Regionalliga ersetzt wurde, setzte sich die Vorherrschaft der beiden Klubs fort. Die Spiele gegeneinander waren die Höhepunkte jeder Saison, die Stadien waren voll, und des öfteren kam es auch zu Krawallen. Die Attacken bei jenem Spiel am zweiten Weihnachtsfeiertag 1948 waren der traurige Höhepunkt.

 

Celtics Ende war ein großer Verlust für die Liga, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. „Ich denke, die nordirische Fußball-Liga ist tot“, sagt John Walker, der Sohn von Harry Walker. „Die Vereine werden von ein paar Wohltätern am Leben gehalten, weil sie Fußball lieben. Die Zuschauerzahlen gehen zurück, unser Ruf im Ausland sinkt, während anderswo in Europa das spielerische Niveau ständig steigt.“ Und Charlie Tully, einer der großen Celtic-Stars, sagt: „Ja, es war ein trauriger Tag, als Jimmy Jones im Windsor Park vom Platz gejagt wurde – ein trauriger Tag für Celtic, für Irland und für die Vereine, die ohne Celtic weiterspielen mussten.“

 

Jimmy Jones hatte seine Karriere als Amateur ausgerechnet bei Linfield begonnen. Obwohl er gleich zu Beginn einen Hattrick schoss, musste er danach auf die Reservebank und wurde zum Schluss als Linienrichter eingesetzt. „Danach bin ich einfach nicht mehr hingegangen“, sagt er. „Man merkte bei Linfield gar nicht, dass ich weg war.“ Ein Freund nahm ihn zum Celtic Park mit, wo ihn der Trainer Elisha Scott mit einem Bündel Fünf-Pfund-Scheine köderte.

 

Als Jones Tor um Tor für Celtic schoss, dämmerte es Linfield, dass man einen Fehler gemacht hatte. Geschäftsführer Joe Mackey bestellte ihn zu sich und erklärte ihm, er könne seinen Preis selbst bestimmen. „Was mich abgestoßen hat“, sagt Jones, „war Mackeys Bemerkung, dass ich nicht mit den verdammten Taigs spielen sollte.“ Taig ist ein Schimpfwort für Katholiken. „Ich fühlte mich wohl bei Celtic“, sagt Jones, „Religion war kein Thema. Niemand kümmerte sich darum, was du warst. Ich hatte keine Lust auf diesen sektiererischen Quatsch und sagte Mackey, er könnte sich sein Geld sonstwo hinstecken. Ich stürmte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Mackey hat mir das nie verziehen. Sein Hass verfolgte mich bis zu dem Spiel am zweiten Weihnachtsfeiertag 1948.“ Linfield kam glimpflich davon, der Verband verhängte lediglich eine einmonatige Stadionsperre. Das bestärkte das Celtic-Management, den Verein aufzulösen, da man sich von dem protestantisch-unionistisch dominierten Verband hintergangen fühlte.

 

„Für jemanden wie mich, der im Schatten des Celtic Park aufwuchs, ist es ein deprimierendes Gefühl, an dem alten Ort vorbeizugehen und zu wissen, dass seine Tore für den Fußball für immer geschlossen sind“, schrieb Charlie Tully, einer der Celtic-Stars, in seiner Autobiographie 1958. Das berühmte Stadion wurde bis in die achtziger Jahre für Windhundrennen benutzt, 1985 wurde es abgerissen. Der Celtic-Funktionär Frank Hennessey erinnert sich an seinen letzten Besuch am Abend, bevor die Bagger kamen: „Obwohl das Licht eingeschaltet war, lag eine düstere und leere Atmosphäre über dem Stadion. Der Gedanke, dass solch ein großartiges Sportdenkmal zerstört werden sollte, machte mich sehr traurig.“ Wo früher das „Paradise“ war, steht heute ein Einkaufszentrum.

 

 

Fenster schließen zurück zur Startseite