Dreißig Meter über dem Meer

Paddy Sheehan - Dreißig Meter über dem Meer

 

 

AUS BEARA RALF SOTSCHECK

 

Besonders vertrauenserweckend sieht der blau-weiße Stahlkasten nicht aus. Links und rechts ist jeweils ein Bank für drei Personen angeschraubt, links oben befindet sich eine Gegensprechanlage: „Im Notfall drücken Sie den silbernen Knopf und sprechen mit der Bedienungsperson.“ Um sicher zu gehen, dass dieser Notfall nicht eintritt, hängt darunter eine Weihwasserflasche und der Psalm 91: „Ob Tausend fallen zu deiner Seite und Zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. Du wirst sehen und schauen, wie den Gottlosen vergolten wird. Denn der HERR ist deine Zuversicht.“

 

Der Kasten ist die einzige Seilbahn Irlands. Sie verbindet die Spitze der Beara-Halbinsel in der südirischen Grafschaft Cork mit der Insel Dursey. Paddy Sheehan, ein kleiner Mann mit grauen Haaren und einer knallroten Jacke, ist seit 21 Jahren für den Betrieb der Seilbahn zuständig. Der 55-jährige ist auf Beara geboren, in der Nähe der Seilbahnstation führt er mit seiner Frau Agnes eine kleine Pension mit dem passenden Namen „Windy Point“. Stürmisch ist es in der Gegend oft, doch erst bei Windstärke 8 kann die Seilbahn nicht mehr fahren. „Wenn der Wind dann aus dem Westen kommt, könnte er die Gondel anheben, so dass sie aus der Trosse springt“, sagt Sheehan.

 

Die Gondel ist vor ein paar Jahren ausgetauscht worden, die Original-Gondel steht im Garten eines Bauernhauses hundert Meter die Straße hinauf und dient als Hühnerstall. „Im Grunde müsste man die ganze Anlage generalüberholen und eine größere Gondel anschaffen“, meint Sheehan. „Es passen ja nur sechs Menschen hinein, und voriges Jahr hatten wir 9.000 Besucher. Viele konnten gar nicht mitfahren.“ Die Inselbewohner haben Vorrang, für sie wurde die Seilbahn 1969 errichtet. Sie fahren kostenlos, Touristen zahlen acht Euro.

 

Die Seilbahn hat das Leben auf der Insel verändert. Früher waren die Bewohner im Winter vom Festland praktisch abgeschnitten, denn der 375 Meter breite Dursey-Sund ist aufgrund der tückischen Strömungen dann unpassierbar. Dank der Seilbahn können sie zum Einkaufen oder zum Pub aufs Festland hinüber. Lediglich 2009 war die Seilbahn für zwei Monate außer Betrieb, weil das 40 Jahre alte Seil erneuert werden musste. Die Abwanderung konnte die Seilbahn jedoch nicht aufhalten. Inzwischen leben nur noch sechs Menschen ständig auf Dursey.

 

Bis vor kurzem hatten auch Tiere Vorrang vor Touristen. Auf der Insel grasen rund 500 Schafe und 80 Kühe, neben den paar Einwohnern besitzen auch neun Bauern vom Festland Weiden auf der Insel. Einmal sei eine Kuh, kaum dass sie auf dem Festland gelandet war, wieder zurück zur Insel geschwommen, sagt Sheehan. Vor gut zwei Jahren erließ die Grafschaftsverwaltung das Verbot, Tiere mit der Seilbahn zu transportieren. „Es ist schwierig für die Inselbewohner“, meint Sheehan. „Wenn sie ein krankes Tier haben, können sie es nicht mehr zum Tierarzt bringen, sondern müssen es auf der Insel sterben lassen. Und sie können ihre Tiere nicht mehr zum Viehmarkt bringen.“ Bevor die Seilbahn gebaut wurde, mussten die Tiere schwimmen, was nicht immer gut ging. In der Gondel liegen unter den Bänken allerdings frische Strohreste. Wird das Verbot nicht eingehalten? Sheehan lächelt nur.

 

Man schwebt rund 30 Meter über dem Sund, das Meer ist trügerisch ruhig und spiegelglatt. Ein paar Seehunde drehen ihre Runden, am Ufer nisten Steindohlen und Basstölpel, die größten Vögel im Nordatlantik. Anfang der neunziger Jahre erklärte die irische Regierung den Küstenstreifen zum ersten Wal- und Delfinschutzgebiet Eropas. 24 verschiedene Arten wurden gesichtet, und auch einige Haie, aber nur die harmloseren Arten.

 

Nach siebeneinhalb Minuten legt die Gondel auf Dursey an, ein Sensor bremst sie rechtzeitig vor der Station ab. Hier sind die Passagiere auf sich gestellt, sie müssen die Tür der Gondel öffnen und vorsichtig aussteigen. Die Insel ist sechseinhalb Kilometer lang und anderthalb Kilometer breit. Auf Irisch heißt sie Oileán Baoi. Sie ist vor allem braun, aber die Hügel sind grün. Bäume gibt es nicht, auch keinen Laden, kein Restaurant, keine Kneipe und keinen Handy-Empfang.

 

Neben der Gondelstation auf der Insel parkt rund ein Dutzend Autos, die meisten ohne TÜV und Versicherung. Eins davon ist das Postauto. Der Briefträger versorgt die paar Menschen täglich mit Post. „Die Autos sind mit Fischerbooten herübergebracht worden“, sagt Sheehan. „Man hat bei Flut genau eine halbe Stunde, um an der einzigen Stelle anzulegen, wo die Autos herunterfahren können. Die alten Leute wissen genau Bescheid, aber die jüngeren haben keine Ahnung.“ Hunde sind im Interesse der Schafe nicht erlaubt. Unter dem Verbotsschild steht die Warnung: „Mancher Hund ist erschossen worden.“

 

So klein und unbedeutend die Insel scheint, so hat sie doch eine lange Geschichte. Schon zur Bronzezeit lebten hier Menschen. Vor tausend Jahren herrschten die Wikinger in Irland. Sie benutzten Dursey als „Sklavendepot“. Die irischen Sklaven wurden dort so lange gefangen gehalten, bis man genug von ihnen für eine Schiffsladung nach Skandinavien zusammen hatte. Nach den Wikingern kamen die Normannen. Ihre Eroberung Irlands war mit der Schlacht von Kinsale im Dezember 1601 abgeschlossen. Der Häuptling der Beara-Halbinsel, Donal Cam, hatte auf Seiten der Rebellen gegen die Armee Elisabeths I. gekämpft. Nach der Niederlage zog er sich nach Dursey zurück und sicherte die Insel mit 40 Mann gegen eine Invasion. Die kam ein Jahr später. Die Rebellen hatten den schwer bewaffneten englischen Truppen nichts entgegenzusetzen und ergaben sich. Sie wurden auf der Burg von Dunboy gehängt. Die englischen Invasoren töteten die 300 Bewohner, die damals noch auf Dursey lebten, und verbrannten ihre Häuser sowie die Kirche. Doch später siedelten sich wieder Menschen auf Dursey an.

 

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ausschließlich Irisch gesprochen. Als der Schriftsteller Peadar Ó hAnnracháin 1906 auf die Insel kam, hatte sich jedoch Englisch bereits durchgesetzt. Wer auswandern wollte, musste Englisch können, und auf den weiterführenden Schulen auf dem Festland wurde der Unterreicht in Englisch abgehalten. Eine Grundschule gab es seit 1857 auf Dursey, der erste Lehrer war ein 18-jähriger Referendar, er unterrichtete 32 Kinder. 1975 war die Zahl der Schüler auf fünf geschrumpft. Da das Bildungsministerium ein Minimum von sechs Kindern vorschreibt, musste die Schule schließen, die Kinder gingen danach auf dem Festland zur Schule.

 

Von der Gondelstation führt eine einspurige Straße, die in der Mitte von Gras bewachsen ist, nach Südwesten. Links am Strand steht die Ruine einer Franziskaner-Kapelle, im 16. Jahrhundert vom spanischen Bischof Bonaventure gebaut, aber schon Anfang des 17. Jahrhunderts von Piraten überfallen und zerstört. Am Westende der Kapelle sind die Nachfahren der Häuptlinge von Beara beerdigt, wie ein Grabstein von 1787 ausweist. Nebenan liegt das Feld „Pairc an Air“, das Massakerfeld, wo die Engländer die Inselbewohner getötet hatten.

 

Es gibt drei Dörfer auf Dursey: Ballynacallagh, Kilmichael und Tilickafinna. Es sind Geisterdörfer, bis auf die bewohnten Hütten und ein paar Ferienhäuser sind die Häuser längst verlassen und zerfallen stetig. Nach Kilmichael verengt sich die Straße und ist nur noch ein besserer Trampelpfad. Ein Witzbold hat ein Geschwindigkeitsbegrenzungsschild aufgestellt: 100 kmh. Am Ende des Weges, am Dursey Head, sieht man die vorgelagerten drei Felsen: The Bull, The Cow, The Calf.

 

Früher stand ein Leuchtturm auf dem Calf Rock, doch er wurde 1881 im Sturm zerstört. 1889 errichtete man ihn wieder, diesmal auf dem Bullenfelsen. Er diente der Nazi-Luftwaffe während des Zweiten Weltkriegs als Orientierungspunkt. Die Flugzeuge starteten täglich in Mérignac bei Bordeaux zu ihren Wettererkundungen und flogen tief über den Bullenfelsen. Dave Sheehan, der Leuchtturmwärter, ging jedes Mal hinaus und schwenkte ein gelbes Tuch, die Piloten winkten und wackelten mit den Tragflächen der zweimotorigen JU88. Doch am 22. Juli 1943 verlor der 22-jährige Pilot Hans Auschner im Nebel die Orientierung und flog in den Berg am Crow Head nicht weit von der Stelle, wo heute die Gondelstation auf dem Festland steht.

 

Auschner und seine drei Besatzungsmitglieder wurden mit militärischen Ehren zunächst auf dem Friedhof von Ballaghboy beigesetzt. Vorsichtshalber hatte man einen katholischen und einen protestantischen Pfarrer geholt, weil man nicht wusste, welchem Glauben die Toten angehörten. 1950 wurden die vier Soldaten auf den deutschen Friedhof von Glencree an der Ostküste umgebettet. Unterhalb der Gondelstation hat die Grafschaftsverwaltung eine Gedenktafel angebracht. Ein Motor der Ju88 dient heute als Anker im Hafen von Garinish, der zweite als Generator für einen fahrenden Rummelplatz.

 

Auf dem Rückweg von Dursey Head gabelt sich die Straße. Der nördliche Weg führt hinauf zum höchsten Punkt der Insel, 252 Meter über dem Meeresspiegel, wo ein Wachtturm steht. Er wurde, wie viele andere Türme entlang der Küste, während der napoleonischen Kriege als Frühwarnsystem gebaut. Hinter dem Wachtturm führt die Straße in einem Bogen wieder hinunter zur Seilbahnstation.

 

Auf der anderen Seite des Sunds warten Paddy Sheehan und seine Frau bereits auf die Gondel. Sie haben Eimer mit Viehfutter dabei. Sheehan besitzt 40 Schafe auf Dursey. Um die Gondel zu bedienen, hat er einen Freund mitgebracht, doch der macht das offenbar zum ersten Mal. Er drückt auf dem großen Kontrollkasten auf einen Knopf und fragt: „Bewegt sie sich?“ Nein. Er probiert weitere Knöpfe aus, und auf einmal setzt sich die Gondel in Gang, bleibt aber nach zehn Metern wieder stehen. Sheehan gibt unterdessen Anweisungen, doch durch die veraltete Gegensprechanlage sind sie nicht zu verstehen. Nachdem die Gondel ein paar Minuten in der Luft über dem Sund hängt, findet der Gehilfe den richtigen Knopf, und die Sheehans schweben nach Dursey zu ihren Schafen.

 

ENDE

 

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