wolpertinger bei bewölktem himmel – von RALF SOTSCHECK


Hobbyarchäologen benötigen Phantasie. David Jones, ein Bekannter aus England, hat viel davon. Neulich berichtete von einem Tier, das ihm begegnet sei: Eine Mischung aus Schaf und Karnickel. Das Langohrschaf sei mühelos über eine Mauer gesprungen und dann im Zickzack davongelaufen, behauptete Jones. Um die Bewegungen des ungewöhnlichen Lebewesens zu demonstrieren, führte er einen Veitstanz auf, so dass man befürchten musste, dass er jeden Moment tot zu Boden fallen würde. Als er sich wieder beruhigt hatte, zog er ein Blatt Papier aus der Tasche, auf dem er eine Zeichnung des Tieres angefertigt hatte: eindeutig ein irischer Wolpertinger.


Aber Jones hatte noch mehr auf Lager. Er habe mal wieder im Burren in der westirischen Grafschaft Clare geforscht. Der Name stammt vom gälischen „boireann“ ab, was „felsiger Ort“ bedeutet. Er weist eine erstaunlich vielfältige Vegetation auf: Zwischen den Steinen ist von arktischen Pflanzen über Alpenblumen bis zu mediterranen Gewächsen alles zu finden. Der englische Schriftsteller und Mythenforscher Tolkien soll von der wilden Szenerie zu seiner Trilogie „Herr der Ringe“ inspiriert worden sein. Jones wurde zu Spekulationen über eine Mauer inspiriert.


Es handle sich um ein 30 Meter lange, schnurgerade Mauer, die 800 Jahre älter als Stonehenge sei, sagte er. Sie sei zur Wintersonnenwende am 21. Dezember genau zur aufgehenden Sonne ausgerichtet. „Die Bauherren müssen Sonnenanbeter gewesen sein“, vermutete er und bot an, meinem Kollegen Aribert und mir am betreffenden Tag frühmorgens das bemerkenswerte Bauwerk zu zeigen. Am besten sollten wir eine Filmkamera mitnehmen, damit wir gleich einen Dokumentarfilm drehen könnten. Er selbst würde uns obendrein ein Interview geben, um das Phänomen wissenschaftlich einzuordnen. Er war davon überzeugt, dass die ägyptischen Pyramiden getrost einpacken könnten.


Am Vorabend bekam er Gewissensbisse. Der Burren sei überaus gefährlich, warnte er. Was da alles passieren könnte! Zur Sicherheit nahmen wir deshalb Mac mit, der im Burren aufgewachsen ist und die Gegend wie seine Westentasche kennt. Er kennt auch Jones wie seine Westentasche und war entsprechend skeptisch.


Am Freitagmorgen war der Himmel war bewölkt, von der Sonne keine Spur. Nachdem wir eine Weile an dem sensationellen Gemäuer herumgelungert hatten, wollten wir schon aufgeben, doch plötzlich brach die Sonne durch die Wolken – allerdings nicht an der Stelle, wo Jones sie vermutet hatte. „Ich glaube, mit bloßen Auge erkennen zu können“, meinte Mac höhnisch, „dass die Sonne in einem 30-Grad-Winkel zu deiner Mauer steht.“ Jones versucht vergeblich, uns davon zu überzeugen, dass die Sonne früher möglicherweise einen anderen Himmelslauf genommen habe.


Schließlich machte er beleidigt kehrt, warnte uns abermals vor den Gefahren des Burren und viel der Länge nach in einen Bach. So hatte sich der frühmorgendliche Ausflug doch noch gelohnt, denn Aribert hatte die Kamera laufen lassen. Jetzt müssen wir Jones nur noch dazu bringen, den Wolpertinger-Veitstanz vor der Kamera aufzuführen. Das ergibt zwar keinen Dokumentarfilm, aber einen lupenreinen Slapstick.

 

Fenster schließen zurück zur Startseite