In Schlucken-zwei-Spechte


Ich wurde in der Hochallee 1 in Hamburg 13 geboren. Im Luftschutzkeller, als Zehn-Monats-Kind. Immer, wenn ich soweit war, begann der Fliegeralarm, und ich dachte mir, ich bin doch nicht doof. Ich hab mir jetzt ausbedungen, daß in Kurzviten nicht mehr irgendetwas Kreatives steht. Da steht nur noch Harry Rowohlt, geboren 1945 in Hamburg 13, lebt in Hamburg Eppendorf. Für Kenner ist das ein leichter Abstieg, aber noch nicht die schiefe Bahn, man braucht sich also noch keine Sorgen zu machen.


Bei dem Nachnamen sowieso nicht. Das ist doch deine Lieblingsfrage: »Haben Sie etwas mit dem Rowohlt-Verlag zu tun?« Jeder, der sie stellt, muß fünf Mark an eine Wohltätigkeitsorganisation spenden, oder?


Jawohl. Es ist eine Last, wenn man Rowohlt heißt. Im Hamburger Telefonbuch stehen, außer dem Rowohlt Verlag, meiner Mutter und mir, noch zwei weitere Rowohlts, und irgendwann abends habe ich die beiden angerufen, ganz leicht angeheitert und entsprechend erhöht risikobereit. Ich telefoniere eigentlich nur, wenn ich ganz leicht angeheitert bin. Wenn ich nicht betrunken bin, habe ich keine Lust zu telefonieren, weil ich dann übersetze. Aber manchmal will man sich halt ein bißchen mitteilen. Ich habe schon erwogen, einen Alkoholmelder am Telefon anbringen zu lassen, aber dann würde ich ja gar nicht mehr telefonieren. Ich habe also die beiden übrigen Rowohlts im Hamburger Telefonbuch angerufen, um sie zu fragen, ob es ihnen auch so auf den Wecker geht, daß sie immer gefragt werden, ob sie etwas mit dem Rowohlt-Verlag zu tun haben? Der eine ist Weinhändler und sagte: »Nö, ich habe mich daran gewöhnt, ich weiß ja, wer ich bin.« Und der andere hieß Jörg Rowohlt, war damals Leiter der Hamburger Schwuleninitiative e.V. und klang wie jemand, der bösartig Fritz J. Raddatz nachmacht: »Was wollen Sie überhaupt von mir?«


Aber als du geboren wurdest, hattest du einen anderen Nachnamen.


Geboren wurde ich als Harry Rupp, weil meine Mutter damals in dritter und vorletzter Ehe mit dem Kunstmaler Max Rupp aus Idar-Oberstein verheiratet war. Dessen Wirken läßt sich in Idar-Oberstein immer noch verfolgen. Er hat Kunst am Bau gemacht, er hat furchtbar herumgewütet, ganz grauenvoll. Er konnte früher bestimmt sehr gut malen und zeichnen, aber das wird nicht verlangt. Deshalb hieß ich zunächst Harry Rupp. Als sich meine Mutter scheiden ließ, hieß ich Harry Pierenkämper-Rupp, nach dem Mädchennamen meiner Mutter. Ich war schon als Kleinkind eine männliche Doppelnamen-Tusse. Als ich schreiben lernte, gab es gewisse Probleme. »Harry« konnte ich bereits nach dem ersten Schultag schreiben. Mein Lehrer, Herr Stabwitz, erklärte mir das so: Das H ist eine kurze Leiter. Das kleine a ist ein Reifen, der kaputt gegangen ist. Der Spengler repariert ihn, aber nicht besonders gut, und schon hat man ein a. Dann kommen zwei Spazierstöcke, und das y hatte ich ganz exklusiv für mich allein. Ich weiß nicht mehr, wie er das y erklärt hat, aber das konnte ich auch sofort. Nur mit dem Nachnamen haperte es, weil ich nie wußte, wie ich gerade hieß.


Nachnamen sind, wie Goethe sagt, Nachschall und Nachrauch.


Heute behauptet meine Mutter, sie hätte Max Rupp nur geheiratet, um ihm zwei Wochen Heimaturlaub verpassen zu können. Während der fraglichen Zeit, als ich gezeugt wurde, war er bereits in sowjetischem Gewahrsam, vulgo Kriegsgefangenschaft, weshalb er rundherum nicht in Frage kam.


Harry Rupp – das klingt wie ein Fußballreporter. »Wir schalten um ins Westfalenstadion zu Harry Rupp. Harry Rupp, bitte melden!« Wie war das nochmal mit dem Luftschutzkeller?


Ich hatte gutes Glück, daß ich nicht im Krankenhaus, sondern im Luftschutzkeller geboren worden bin. Ich war vor ein paar Jahren mal in dem lokalen Kinderkrankenhaus, das inzwischen eine halboffene Gemeindeklappsmühle ist.


Du warst in der Klappsmühle?


Nein. Sie hatten ein Jubiläum und eine Fotoausstellung. Ich hab mir das angesehen und dabei festgestellt, daß in diesem Krankenhaus Babys gesammelt wurden. In der Fotoausstellung im Treppenhaus merkte ich, was ich als geschichtlich interessierter Mensch hätte wissen können, daß in diesem Krankenhaus die Transporte mit den Babys zusammengestellt wurden, die wegen Euthanasie ins Gas gingen. Und meine Mutter hatte keinen Ariernachweis. Bis heute nicht. Das hat sie irgendwie verschlampt. Meine Großmutter mütterlicherseits war eine italienische Zigeunerin, wobei mir eine jüdische Großmutter noch lieber gewesen wäre. Da wäre ich ein bißchen plietscher, aber auf diese Weise habe ich wenigsten den Rhythmus im Blut. Kein Schwein durfte wissen, daß sie eine italienische Zigeunerin war, und deshalb hat es auch niemand erfahren. Wenn sie einen ihrer gefürchteten Ausbrüche hatte, sagte mein Opa Franz Pierenkämper immer begütigend: »Naja, dat is dat französische Blut.« Damals im Ruhrgebiet hatte man als italienische Zigeunerin, selbst wenn das geheim gehalten wurde, nicht viele Volksgruppen, auf die man herabblicken konnte, weshalb ich heute noch einen Merkvers von ihr beherrsche: »In Kruppsche Baracken, da wohnen Polacken, da laufen die Kakerlaken die Polacken in Nacken. Da nehmen die Polacken die Pickhacken und tun die Kakerlaken kaputt hacken.«


Herrje, Bochumer Büttenpoesie.


Immerhin. Was man meiner Oma gar nicht zutraute: Sie war Vegetarierin, sie kochte wie eine gesengte Sau. (...) Sie war oft im Knast, abwechselnd wegen »politisch« und Engelmacherei. Am meisten hat sie sich vor der Anstaltskleidung gegraust. Sie war ein sehr reinlicher Mensch. Einmal sagte sie: »In dem Kittel war Monate altes Unwohl drin!« Das letzte Mal ist meine Oma mütterlicherseits im Wartesaal Bonn-Hauptbahnhof verhaftet worden. Sie wetterte mal wieder über Politik, und ein Herr sagte: »So eine alte Dame sollte sich um Politik nicht mehr bekümmern.« Da stieg meine Oma auf einen Stuhl und schrie: »Und der Adenauer, der alte Bock?« Und schon machte es »klick.« Die Bahnpolizei hatte sie verhaftet. Aber danach kam nichts mehr. Im Krieg hat sie sich gut über Wasser gehalten. Sie hatte eine Ruine, eine alte Mühle im Hunsrück gekauft, weil sie zu Recht annahm, daß die nicht bombardiert würde. Sie hat, weil sie Zigeunerin war und das offenbar konnte, den Bauern die Karten gelegt und ihnen geweissagt. Einmal sagte sie einer Bäuerin, ihr kleiner Sohn solle sich vor Wasser hüten, genauer gesagt, vor warmen Wasser, noch genauer, vor heißem Wasser. Und zwar in der allernächsten Zukunft, nein, jetzt gerade. Die Bäuerin rannte so schnell sie konnte nach Hause. Da war ihr kleiner Sohn schon in den siedend heißen Waschkessel gefallen und verbrüht. Daraufhin wurde meine Oma zum Pfarrer bestellt. Er sagte, sie solle gefälligst aufhören, diesen Aberglauben zu verbreiten. Sie hat ihn gefragt: »Warum behandeln Sie mich eigentlich so schlecht? Wir sind doch Kollegen.«


Hat sie denn an die Karten geglaubt?


Ja, meine Oma hat, im Gegensatz zum Pfarrer, an ihren Hokuspokus geglaubt. Sie plante immer, im Gegensatz zu mir, ihre Memoiren zu schreiben. Titel: »Die Königin vom Longkamperbach«. Sie konnte nicht ahnen, daß sie bei den Bauern im Hunsrück den Spitznamen »der Teufel zu Fuß« hatte. So wie meine Mutter dann später »der Teufel mit dem Auto«. Meine Mutter ist jetzt 91, sie hat sich leider ein neues Auto angeschafft. Die Landbevölkerung ist in heller Aufregung. Sie kannten das Geräusch ihres alten Autos, das sie im ersten Gang fuhr, und konnten sich in Sicherheit bringen. An das neue Auto müssen sie sich erst noch gewöhnen. Sie hatte sogar mal einen BMW, den sie auch nur im ersten Gang gefahren ist. Sie fand auch nie die richtige Autobahnabfahrt. Sie ist eben Schauspielerin gewesen, und Schauspieler sind nun mal nicht allzu helle. (...) Meine Oma ist nur 88 geworden, meine Mutter ist schon 91. Der Mann meiner Großmutter, Fränzken Pierenkämper, war Sitzredakteur beim Bochumer Volksblatt, das heißt, er war verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes. Wenn im Bochumer Volksblatt irgendwas erschienen war, was der Obrigkeit nicht paßte, ging er dafür in den Kahn. Sobald er im Kahn war, fing er an, Lyrik zu schreiben. Außerhalb des Knastes nur Prosa, innerhalb des Knastes nur Lyrik.


Wenn also ein Romancier mal Lyrik schreiben möchte, wäre diese Methode durchaus zu empfehlen.


Ja. Fränzken Pierenkämper war 1917 einer der führenden Köpfe im Arbeiter- und Soldatenrat von Wilna, und das als Goi. Da mußte man ganz schön was zwischen den Ohren haben. Später war er einer der ersten Minister der jungen Sowjetmacht. Da hat er sich aber nach einer Woche wieder abgeseilt – mit der Begründung: Sind mir zu links, die Brüder. Er hat aber später die USPD mitgegründet. Sein Sohn Harry Pierenkämper, nach dem ich benannt wurde, hatte eine Hasenscharte und stotterte, weshalb er Pantomime wurde.


Eine sehr weise Entscheidung.


Er war Mitbegründer des Spartakus. Man kann sich vorstellen, wie muffelig es bei denen zu Hause zuging, denn es gibt ja nichts Unversöhnlicheres als Kommunisten und linke Sozis. Das war in Bochum-Weitmar, in einer Arbeitersiedlung mit lauter Häusern bis zum Horizont. Eins sieht aus wie das andere, die unterschieden sich genau wie heute nur durch die Vorgärten. Eines Morgens maulte der Alte seinen Sohn an: »Ich fahre morgen auf Vortragsreise, und wenn ich in zehn Tagen zurück bin, und der Vorgarten ist nicht tip-top in Ordnung, dann hast du deine Beine die längste Zeit unter meinen Tisch gestreckt.« Da hat sich der Sohn von niederländischen Genossen gelbe und rote Tulpenzwiebeln besorgt, den Vorgarten gejätet, die Tulpenzwiebeln gesteckt, und als die hervorschossen, oder was immer die so machen, sah man wunderschön deutlich und fein säuberlich einen gelb umrandeten roten Sowjetstern mit gelbem Hammer und gelber Sichel. Der Alte sagte dann zähneknirschend: »Na, immerhin sieht das ordentlich aus.« Sie sind glücklicherweise beide pünktlich vor 1933 gestorben. An denen hätten die Nazis noch viel Spaß gehabt.


Deine Mutter war Schauspielerin. Wo hat sie damit angefangen?


In Bochum. Damals gab es ja noch diese Fächer »jugendliche Sentimentale« bei dem legendären Saladin Schmidt, dem Erfinder der expressionistischen dunklen Bühne, weshalb er allgemein Saladin mit der Schlummerlampe genannt wurde. Seine Inszenierung von Schillers »Räubern« hieß allgemein »Bruderzwist auf Sohle Sieben«. Er hatte eine stehende Redewendung gegenüber weiblichen Ensemblemitgliedern, indem er sie anschwulte: »Meine liebste, beste, teuerste Freundin, gehen Sie weg. Ich kann Sie nicht mehr sehen.« Sehr viel später wurde meine Mutter als Tischdame von Goebbels eingeteilt. Das wußte sie vorher nicht. Sie kam wie immer zu spät und bekam einen Wahnsinnsschreck, als nur noch neben Goebbels ein Platz frei war und ihr nichts anderes übrigblieb, als sich dorthin zu setzen. Goebbels mußte sich damals von seiner Freundin, der tschechischen Schauspielerin Lida Baarova, trennen, weil sie Halbjüdin war. Weil meine Mutter von weiten genauso aussah wie Lida Baarova, hatte man sie als Tischdame ausgesucht. Glücklicherweise saß ihr ein alter Kollege aus Bochumer Zeiten gegenüber, der sagte: »Maria, mach doch nochmal den Saladin Schmidt.« Also schwulte sie: »Meine liebste, beste, teuerste Freundin, gehen Sie weg. Ich kann Sie nicht mehr sehen.« Plötzlich Totenstille, weil Goebbels glaubte, sie hätte ihn nachgemacht. Auf diese Weise hat sich das mit Goebbels und meiner Mutter zerschlagen. Leider. Die hätte ich ihm nämlich gegönnt. Es wäre doch schön gewesen, wenn er sich eine Halbjüdin gegen eine Halbzigeunerin eingetauscht hätte. Da hätten seine Kumpel aber irgendwann mal gedacht: Der Goebbels, der hat aber auch einen seltsamen Geschmack bei Weibern.


Wann hat sie denn deinen Vater kennengelernt?


Meinen Vater kannte ich aus einer Zeit, als er noch gar nicht richtig in unser Leben getreten war. Er war im Ersten Weltkrieg in der Kavallerie gewesen, wie sich das gehört. Er war als einer der ersten dabei, als die Luftwaffe erfunden wurde. Daß er geflogen ist, hat man seinem Autofahren angemerkt. Glücklicherweise hatte er später einen Chauffeur. Er ist immer wieder mit seinem Verlag pleite gegangen, insgesamt fünf Mal. Deshalb bin ich auch ganz froh, daß ich nicht in den Rowohlt-Verlag eingetreten bin, denn diese Tradition hätte ich als erstes wiederbelebt. Im Zweiten Weltkrieg emigrierte er zunächst nach Brasilien, obwohl man nicht so genau weiß, ob es sich wirklich um eine Emigration oder nicht vielleicht doch nur um einen Abenteuerurlaub handelte. Er kam erst zurück, als Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte. Er dachte sich, jetzt kann es ja wohl nicht mehr lange dauern. Er ist auf einem Blockadebrecher zurückgekommen, weil er nicht erst zurückkehren wollte, nachdem Deutschland verloren hatte, sondern er wollte noch ein bißchen mitmachen. Es hat aber sehr viel länger gedauert, als er angenommen hatte, so daß er wieder zur Luftwaffe mußte. Auf Kreta hat er gegen die Engländer gekämpft. Und wie! Er merkte ziemlich bald, daß die Griechen, die seit Jahren Bürgerkrieg hatten, schon seit Jahrzehnten mit denselben Spielkarten spielten, so daß jeder wußte, welches Blatt der andere hatte, so abgewetzt waren die Karten. Er hat sich mit seinen alten Verlegerbeziehungen von der Altenburger Skatkartendruckerei neue Spielkarten kommen lassen und hat sie gegen Ouzo und Retsina verscherbelt. Zweitens hat er mit Dynamit gehandelt. Aus den Bomben, die er auf die Engländer abwerfen sollte, hat er etwa vier Fünftel des Schießpulvers beiseite geschafft – die Bomben konnte man ja ganz leicht aufschrauben – und es gegen Naturalien an die Griechen verschintscht. Er wußte natürlich, daß die Griechen auch noch etwas anderes damit gemacht haben, als das Dynamit zum Fischen zu verwenden, aber das war ihm auch ganz recht. Anschließend hat er brav seine Bomben ins Gelände geschmissen, wo sie kein Unheil anrichten konnten, und sie haben auch schön geknallt, aber sonst waren sie harmlos. Eine dieser Bomben hat er aus Versehen auf eine englische Feldküche geschmissen, die so gut getarnt war, daß man sie beim besten Willen aus der Luft nicht sehen konnte. Die machte »Peng«, ganz zaghaft zwar, aber sie hat immer noch einigen Schaden angerichtet. Da hatte er ein so schlechtes Gewissen, daß er den nächsten Fliegerangriff auf der Tragfläche mitflog, weil er dachte, wenn es ihn herunterwehen würde, hätte er selbst schuld – Gottes Gericht sozusagen. Das wurde dann ruchbar, und zu einer Zeit, als sie bereits Kinder und Greise einzogen, wurde er wegen politischer Unzuverlässigkeit unehrenhaft aus den Heeresdiensten entlassen und langweilte sich fortan in Grünheide bei Berlin.


Mein Vater hätte den Zweiten Weltkrieg fast verpaßt, weil man ihn mit seinem Vater verwechselt und ihn für tot erklärt hatte. Nach einem kurzen Einsatz in Nordafrika bekam er dann Tropenfieber und verbrachte den Rest des Krieges im Lazarett in Italien. Wie ist es deinem Vater denn zum Kriegsende ergangen?


Weil mein Vater immerhin in zwei Weltkriegen Erfahrungen gesammelt hatte, wurde er Hauptmann. Das war er, glaube ich, schon im Ersten Weltkrieg, im Zweiten ist nicht viel dazukommen. In Friedenszeiten wird man ja schneller befördert als in Kriegszeiten. Nun sollte er den Volkssturm von Berlin-Grünheide bilden. Sein Nachbar war ein sozialdemokratischer Tischler. Mein Vater kannte niemanden in Grünheide, und der Tischler hat ihm zwei Listen gemacht: eine Liste mit Nazis und eine mit Nicht-Nazis. Mit den Nazis ist mein Vater in den Wald gegangen und hat sie Griffe kloppen lassen. Er hat ihnen die Eier geschliffen, bis ihnen das Arschwasser in der Kimme kochte. Der Tischler requirierte mit den Nicht-Nazis Nahrungsmittel, weil ein Volkssturm ja von irgend etwas leben mußte. Abends lagen die Nazis auf ihren Betten, verbanden sich ihre Wunden und Blasen, stöhnten und hatten Muskelkater. Der Alte, der Tischler und die Nicht-Nazis soffen währenddessen die Nahrungsmittel weg, die sie tagsüber requiriert hatten.


War deine Mutter damals bei ihm in Grünheide?


Nein, sie hatte sich nach Hamburg abgesetzt. Nach der Schließung des Schiller-Theaters wurde es plötzlich wichtig, ob man einen Ariernachweis hatte, aber sie war ohnehin zu schwanger, um noch das Gretchen spielen zu können, obwohl das natürlich gut gepaßt hätte, bei dieser Kindsmörderin. Zum Emigrieren war es auch schon viel zu spät, und da haben alle gesagt, geh nach Hamburg, das ist fast so gut wie emigriert, denn die Hamburger fiebern den Engländern entgegen, um sich endlich ergeben zu dürfen. So bin ich Hamburger geworden.


Und dein Vater ist nach dem Krieg nachgekommen?


Er hat sich von seinem Volkssturm in Grünheide abgesetzt. Er hat den sozialdemokratischen Tischler zu seinem Nachfolger ernannt, mit dem dienstlichen Befehl, beim ersten Russen, den sie sehen, sofort weiße und wenn möglich auch ein paar rote Fahnen zu hissen. Auf diese Weise ist der Volkssturm in Grünheide bei Berlin geschlossen in sowjetische Kriegsgefangenschaft gegangen und geschlossen zwei Tage später wieder entlassen worden, weil er so vorbildlich die Waffen gestreckt hatte. Insofern sehe ich in meinem Alten durchaus einen Kriegshelden. Er ging dann mehr oder weniger zu Fuß nach Hamburg, um zu sehen, was da läuft. Aber geheiratet haben meine Eltern erst, als ich schon zehn Jahre alt war. Ich fand das immer noch verfrüht. Nur weil ein Kind da ist, tut man das doch nicht.

 

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