Lesereise Dublin

Der Friedhof von Glasnevin

 

Das möchte man eigentlich nicht erleben: »Auf dem Friedhof von Glasnevin wird die Geschichte zum Leben erweckt«, heißt es im Informationsblatt, das einem am Eingang ausgehändigt wird. Der Friedhof – offiziell heißt er Prospect Cemetery – ist Dublins Antwort auf Père Lachaise in Paris. Mehr als 1,2 Millionen Menschen sind hier im Norden der irischen Hauptstadt begraben, die Reichen und die Mächtigen, die Berühmten und die Berüchtigten, die Armen und die Unbekannten. »Müssen ja so zwanzig bis dreißig Beerdigungen sein jeden Tag«, staunte Leopold Bloom im »Ulysses« von James Joyce. »Und dann noch der Mount Jerome für die Protestanten.«

Der Friedhof von Glasnevin wurde 1832 eingeweiht. Damals hatte er dreieinhalb Hektar, heute sind es mehr als fünfzig. Daniel O’Connell, ein katholischer Anwalt, der um die Gleichberechtigung der Katholiken kämpfte, hatte die Eröffnung des Friedhofs durchgesetzt. Damals wurde Katholiken nämlich nicht nur das Wahlrecht vorenthalten, sondern ihnen durfte auch kein ordentliches Begräbnis zuteil werden. Der Glasnevin-Friedhof ist jedoch nicht nur für Katholiken, sondern er steht allen Konfessionen und Nationalitäten zur Verfügung.

 

O’Connells Grabmonument, die Nachbildung eines historischen Rundturms, ist das Wahrzeichen des Friedhofs. Der »Befreier«, wie er genannt wird, lehnte Gewaltanwendung zur Durchsetzung seiner Ziele ab. Roger Casement und Eamon de Valera, die am Rand des O’Connell-Monuments beerdigt sind, setzten dagegen auf Waffen, um Irlands Unabhängigkeit durchzusetzen. Casement versuchte während des Ersten Weltkriegs, Waffen vom deutschen Kaiserreich nach Irland zu schmuggeln, wurde aber gefasst und hingerichtet. De Valera, einer der Anführer des erfolglosen Osteraufstands von 1916, entging der Hinrichtung nur, weil er in den USA geboren war.
Vier Jahre später griff er erneut zu den Waffen. Der Unabhängigkeitskrieg gegen die englischen Besatzer endete 1922 mit der Gründung des Freistaats Irland und der Teilung der Insel. Damit war de Valera nicht zufrieden, er lehnte den Teilungsvertrag ab und kämpfte mit seinen Anhängern nun gegen die Regierung des irischen Freistaats, der auch Michael Collins angehörte. Im Unabhängigkeitskrieg waren beide noch auf derselben Seite gestanden. Collins hatte mit seiner Guerilla-Taktik die britischen Truppen an den Rand der Niederlage gebracht. Er beschaffte Waffen, identifizierte britische Agenten und ließ sie von seinen Einheiten der Irisch-Republikanischen Armee erschießen.

 

De Valera schickte Collins als Chefunterhändler nach London. Als er mit dem Teilungsvertrag zurückkam, ahnte Collins, dass er sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte. Zwar ratifizierte das Dubliner Parlament den Vertrag, doch es kam zum Bürgerkrieg. Städte, Dörfer und Familien waren tief gespalten, manche sind es bis heute noch. Als Collins nach Cork fuhr, um mit De Valera über einen Waffenstillstand zu verhandeln, wurde er in der Nähe seines Geburtshauses ermordet. Wenige Jahre später akzeptierte de Valera den Vertrag schließlich, gründete seine eigene Partei Fianna Fáil, die »Soldaten des Schicksals«, und wurde lang­jähriger Regierungschef und Staatspräsident.

 

Collins Grab liegt an der Mauer gleich neben der Hauptstraße. Um das Grab herum sind Betonplatten in den Boden eingelassen. Am Kopfende steht ein drei Meter hohes Steinkreuz mit gälischer Inschrift. Das Grab ist mit Kieselsteinen bedeckt, meist liegen frische Blumen darauf – Gänseblümchen, rote und weiße Nelken, eine Rose. Dieser ältere Teil des Friedhofes ist gesichert wie ein Fort: Eine vier Meter hohe Mauer mit Wachtürmen sollte den Friedhof vor Grabräubern schützen. Frische Leichen brachten Anfang des 19. Jahrhunderts eine Menge Geld ein, denn Mediziner benötigten für ihre anatomischen Untersuchungen ständig Nachschub.

 

Manchmal mischten sich die Leichenräuber unter die Trauergäste und ließen eine Flasche Whiskey kreisen, in die sie ein Betäubungsmittel gegeben hatten. Wenn die Gemeinde bewußtlos zu Boden sank, machten sie sich mit dem Toten davon. Um an den Wachtposten vorbei zu kommen, hakten sie die Leiche unter und taten so, als sei es ein Betrunkener. Manchmal kam es sogar zu Schießereien auf dem Friedhof.

 

Später machten sich die Grabräuber gar nicht mehr die Mühe, Leichname zu stehlen, sondern brachten Leute um und verkauften die Körper. Das machte weniger Mühe. Erst als die Regierung ein Gesetz verabschiedete, das es Medizinstudenten und Professoren gestattete, gespendete Leichen zu sezieren, fand die Grabräuberei ein Ende. So mancher, der zum Tode verurteilt wurde, verkaufte seinen Körper an die Medizin, um vor der Hinrichtung ein letztes Trinkgelage finanzieren zu können.

 

Zu viele Gelage haben den Schriftsteller Brendan Behan 1964 ins Grab gebracht. Er liegt am Südende des Friedhofs, wo früher die Armen begraben wurden. An diesem Ende, gleich neben Kavanaghs Kneipe, die im Volksmund »Gravediggers« heißt, lag damals der Haupteingang. Weil der Eigentümer der Zufahrtsstraße jedoch Gebühren erhob, baute man eine neue Straße parallel dazu und verlegte den Haupteingang. Diese neue Straße teilt den Friedhof in zwei Teile. Der neuere Teil mit einem Denkmal für IRA-Mitglieder liegt hinter einer Wohnsiedlung. Die Siedlung steht auf »Sluts’ End«, dem »Schlampenacker«, wo die Prostituierten begraben wurden. Der neue Friedhofsteil sieht ordentlich aus, die Gräber sind in Reih und Glied angelegt, während die Toten im alten Teil, so scheint es, willkürlich begraben wurden. Die keltischen Kreuze sind längst von Efeu umrankt, die griechischen Säulen moosbewachsen, viele Grabplatten sind zerbrochen.

 

Diese Toten werden nicht mehr lebendig, wie es das Informationsblatt so ominös andeutet. Aber sie sind Lebensspender, so stellte James Joyce in seinem »Ulysses« fest: »Der Botanische Garten ist gleich da drüben. Es ist das Blut, das in die Erde sickert, das gibt neues Leben.«

 

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