Ewige Ruhe an Irlands Grenze


„Herzkranke und Leute mit Schrittmachern sollten besser oben bleiben“, warnt Samantha Leslie die kleine Gruppe, die sich im Castle Leslie auf die Suche nach Geistern macht. Die junge Frau, eine Nichte des Schlossherrn Sir John Leslie, ist in ein dunkles Cape gehüllt, das von einer Kette und zwei Messingknöpfen über der Brust zusammengehalten wird. In der rechten Hand schwenkt sie einen Kandelaber, der die Kellertreppe ausleuchtet.


„Im vergangenen Jahrhundert hatten meine Vorfahren ein Waisenmädchen aufgenommen“, erzählt Samantha. „Eines Tages wollte sie den Bediensteten eine Kanne Tee in den Keller bringen, doch sie stolperte, stürzte und brach sich das Genick. Zuweilen hört man das Gepolter des Tabletts noch heute, niemals aber den Schrei des Mädchens. Vielleicht hat sie ihre ewige Ruhe gefunden.“


Wir setzen vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um nicht dasselbe Schicksal wie das Waisenmädchen zu erleiden. Am Ende der Treppe hängt ein Kasten mit 28 Glocken an der Wand. „Die Glocken werden von den Schlafzimmern aus betätigt, sie unterscheiden sich jeweils durch einen halben Ton“, erklärt Samantha, "die Bediensteten, die hier unten arbeiteten, mussten zuerst die Töne lernen, damit sie wussten, wer nach ihnen läutete.“ Plötzlich klingelt Glocke Nummer 6. „Das kommt aus Normans Zimmer“, flüstert Samantha und erblasst. Von Norman wird später noch die Rede sein.


Schloß Leslie liegt in der irischen Grafschaft Monaghan kurz vor der Grenze mit Nordirland. Der Krieg in der britischen Krisenprovinz hat in den vergangenen 25 Jahren dafür gesorgt, dass die meisten Grenzstraßen geschlossen und zahlreiche Ortschaften von ihrem Hinterland abgeschnitten wurden. Der wirtschaftliche Niedergang der Grenzgebiete ist auffällig. Seit dem Waffenstillstand der paramilitärischen Organisationen im vergangenen Herbst hoffen die Bewohner, dass das anders wird.


1994 hat in der Republik Irland der Tourismus im Vergleich zum Vorjahr um 11 Prozent zugenommen. Insgesamt kamen 3,6 Millionen Menschen, die meisten – knapp 2 Millionen – aus Großbritannien. Die Zahlen sind freilich trügerisch: Als Tourist gilt jeder, der im Ausland wohnt und mindestens 24 Stunden in Irland verbringt. Wenn man die Geschäftsleute und Emigranten auf Heimatbesuch abzieht, bleiben als echte Touristen nur 43 Prozent übrig. Die gaben aber immerhin 1,13 Milliarden Pfund aus – umgerechnet rund 2,7 Milliarden Mark, fast 12 Prozent mehr als 1993. Bord Failte, die irische Fremdenverkehrszentrale, rechnet in diesem Jahr mit einem weiteren Anstieg der Besucherzahlen. Eine besonders hohe „Friedensdividende“ erwartet sich Bord-Failte-Chef Matt McNulty auf dem britischen Markt. „Die Menschen reagieren sehr sensibel auf politische Probleme, die in Gewalt ausarten“, sagt er. „Wir haben bisher stets betont, dass nicht die gesamte Insel davon betroffen ist. Das ist jetzt nicht mehr nötig.“


Der innerirische Tourismus hat seit September bereits erheblich zugenommen. An Wochenenden bringen rund 200 Busse und Dutzende Sonderzüge Einkaufswillige aus Südirland nach Belfast. Viele haben die nordirische Hauptstadt zum letzten Mal in den sechziger Jahren besucht – vor Ausbruch der „Troubles“, wie der Konflikt hier euphemistisch heißt. Umgekehrt hat auch der Reiseverkehr aus dem Norden nach Dublin zugenommen. Am meisten profitieren jedoch die bisher zu Unrecht vernachlässigten Grenzregionen von der Waffenruhe: die Straßen sind wieder offen, der kleine Grenzverkehr blüht, und die Einwohner hoffen auf den Tourismus.


Castle Leslie hat in seiner langen Geschichte eine Reihe von illustren Gästen beherbergt: den scharfen Satiriker und Dubliner Dekan Jonathan Swift, Irlands ersten Literaturnobelpreisträger William Butler Yeats, Margarete Luise, die Nichte des deutschen Kaisers, Prinz Pierre von Monaco sowie in den sechziger Jahren Mick Jagger und Marianne Faithful, die den Rolling Stone in Glaslough mit Lord Rosmore betrog. „Von da ab hieß sie im Ort nur noch Marianne Unfaithful“, sagt Samantha Leslie.


Castle Leslie hat 71 Zimmer. Weil der Unterhalt für die keineswegs reiche Adelsfamilie zu teuer ist, hat man das Schloss im vergangenen Jahr für BesucherInnen geöffnet, die sich nach einem – von Samantha Leslie zubereiteten – sechsgängigen Abendessen auf Geisterjagd begeben können.


Sir John sieht selbst aus wie ein Gespenst, als er – in dichten Weihrauchnebel gehüllt – die Gruppe im Vorraum empfängt. Der spindeldürre 78jährige steht im schwarzen Anzug kerzengerade neben der schweren Eingangstür und begrüßt die Gäste einzeln mit Handschlag. Im Salon, der mit Gemälden, Fotografien und Antiquitäten vollgestopft ist, erzählt er die Familiengeschichte.


Sein Vorfahr, der gleichnamige protestantische Bischof John Leslie, kam 1665 aus Schottland nach Glaslough. Kurz vor seiner Pensionierung baute er ein Haus an der Stelle, auf der heute das 1878 erbaute Schloss steht. Die Kamine im Salon und im Esszimmer sind die einzigen Stücke aus dem Originalhaus. Die Kaminkacheln aus dem 15. Jahrhundert stammen aus Florenz. Im Alter von 69 Jahren heiratete der Bischof und zeugte fünf Kinder. Der Bischof war eingefleischter Monarchist und unterstützte die royalistische Sache gegen Oliver Cromwell.


Ein späterer Leslie wurde Patenonkel von Arthur Wellesley, dem Herzog von Wellington, und finanzierte dessen Ausbildung. Sir John öffnet einen mit blauem Samt ausgeschlagenen, schwarzen Kasten und zieht ein vergammeltes Zaumzeug heraus. „Das gehörte Wellington“, sagt er, „es ist allerdings nicht das Zaumzeug, das er in Waterloo benutzt hat.“ An der Wand des Salons hängt ein gerahmtes Dokument, das von Wellington unterschrieben ist. Auf der Anrichte daneben liegt ein winziges weißes Kleid. „Das trug Winston Churchill als Baby“, sagt Sir John. „Seine Mutter und meine Großmutter waren Schwestern. Winston ging hier in der Nähe zur Schule.“ Während des Zweiten Weltkriegs überhäufte Sir Johns Oma ihren Neffen, der inzwischen britischer Premierminister geworden war, mit guten Ratschlägen. "Da es kein Benzin gab, spannte sie die Pferde ein und fuhr über die Grenze nach Nordirland", erzählt Sir John. Dort warf sie ihre Dossiers für Churchill in einen „sicheren Briefkasten“ – Südirland war schließlich neutral und hätte die Briefe womöglich abgefangen.


Am Ersten Weltkrieg, dem „Great War“, waren die Leslies direkter beteiligt. Sir Johns Onkel Norman Leslie war der letzte britische Offizier, der ein Duell ausgefochten hat. Er überlebte es, doch im Oktober 1914 starb er im Alter von 27 Jahren auf dem Schlachtfeld bei Armentières. Sir John zeigt auf ein Schwert an der Wand. „Das hatte Norman damals bei sich“, sagt er. „Das Schwert war jahrelang verschollen, bis französische Bauern es fanden und unserer Familie zurückgaben.“


Norman taucht heute noch von Zeit zu Zeit im Schloss auf. Zwar ist Sir John noch nie einem Geist begegnet, doch seine Nichte Samantha berichtet von 18 Gespenstern im Castle Leslie – das ist irischer Rekord. Norman wurde im Oktober 1914 eines Morgens von zahlreichen Bediensteten im Schlossgarten gesichtet. Am Abend erfuhr die Familie, dass er bereits am Vortag auf dem Schlachtfeld getötet worden war. Sein Bruder Shane, der als Student in Cambridge zum Katholizismus übergetreten war und später ein bekannter Schriftsteller wurde, brach am nächsten Tag nach Frankreich auf, um den Leichnam zu bergen.


„Kurz vor seiner Abreise“, berichtet Samantha Leslie, „sah er eine Kutsche vor dem Haus. Der Kutscher, ein schwarz gekleideter Totengräber, winkte ihm zu und rief: ,Für einen ist noch Platz.' Shane lief es kalt den Rücken hinunter.“ Aber es kam noch schlimmer: In Paris angekommen, buchte Shane ein Zimmer im sechsten Stock eines Hotels in der Innenstadt. Der Fahrstuhl, mit dem er zum Speisesaal im Erdgeschoss fahren wollte, war recht voll, doch der Liftboy rief: „Für einen ist noch Platz.“ Er hatte dasselbe Gesicht wie der Kutscher in Glaslough, so daß Shane entsetzt zurückschreckte. „Das war sein Glück“, sagt Samantha Leslie, „der Lift stürzte ab. Es gab keine Überlebenden.“


Shane reiste am nächsten Tag weiter, und ab hier ist die Geschichte wieder in der Familienchronik verbürgt: Er durchstöberte zwei Monate lang die Leichenhallen entlang der Schlachtfelder und identifizierte seinen Bruder schließlich anhand des Gebisses.


Normans ehemaliges Zimmer ist bis auf das Bett - laut Gravur stammt es aus dem Jahr 1617 - unverändert. Das wuchtige Doppelbett mit Holzbaldachin habe die Familie in den sechziger Jahren in England erstanden, erzählt Samantha. "Das war ein Fehler", beginnt sie ihre Geschichte. „Das Bett gehörte früher den Oxenbridges, deren Ahne Mitte des 12. Jahrhunderts berüchtigt war, weil er Kinder fraß. Er glaubte, es verhelfe ihm zur Unsterblichkeit. Seinem Diener gelang es, ihm ein Betäubungsmittel in den Wein zu schütten. Als er bewusstlos war, sägten sie ihn in zwei Teile und warfen ihn in den Fluß.“ Vier Jahrhunderte später wurde ein anderer Oxenbridge zum Kindesmörder. „Sein Sohn war behindert“, sagt Samantha, „das wurde damals als Fluch ausgelegt, der über der Familie lastete. Eines Tages erstickte der Vater seinen Sohn in diesem Bett mit einem Kissen.“ Das hatte Auswirkungen, die sich noch immer bemerkbar machen, sagt Samantha: „Nach einer Familienfeier vor zwei Monaten schlief der vierjährige Sohn meiner Cousine in diesem Bett. In der Nacht wachte er auf und weinte hysterisch. Er sagte, jemand habe versucht, ihn mit dem Kopf unter das Federbett zu ziehen.“


Als sich einer der Gäste auf das Unheilsbett setzen will, lässt Samantha einen Schrei los und bläst die Kerzen aus. Der kleinen Gruppe stehen kollektiv die Haare zu Berge. „Keine Angst“, lacht Samantha, „das war nur ein Spaß.“

 

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