Das Austernfestival von Clarenbridge


Peggy Carthy O´Brien isst Austern für ihr Leben gern. Sie war einmal Austernkönigin, aber das ist lange her. Es war 1954, als das Austernfest von Clarenbridge im Westen Irlands zum ersten Mal stattfand. Damals war sie 18, jetzt hat sie sechs erwachsene Kinder, aber sie sieht in ihrem braunen Kleid mit passendem Schleierhütchen noch immer chic aus. „Es kamen damals nur 34 Gäste“, erzählt sie.


Auch sonst lief nicht alles nach Plan. Die Leute sollten in einem Boot von Galway, der benachbarten Großstadt, nach Clarenbridge gebracht werden, schrieb Paddy Burke, der längst verstorbene Besitzer des besten Fischrestaurants von Clarenbridge, in sein Tagebuch: „Der Motor des Bootes flog ihn die Luft, so dass alle per Bus anreisen mussten.“ Dann stellte man fest, dass sich niemand um die Musik gekümmert hatte. So fuhren zwei Männer ins benachbarte Kinvara und liehen sich ein Akkordeon.


Das Austernfest von Clarenbridge ist – ebenso wie das Austernfest von Galway, das in diesem Jahr auch das 50. Jubiläum feiert – von den Hoteliers erfunden worden, die die Tourismussaison gerne in den Herbst verlängern wollten. Einer der Sponsoren des ersten Festivals war Lord Killanin, der langjährige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees. „Ich musste vor dem Lord und den anderen Gästen in Moran´s Restaurant mit einer Auster um ein Bierfass tanzen und sie dann dem Bürgermeister von Clarenbridge überreichen“, erzählt Peggy Carthy O´Brien.


Noch immer wird das Festival am Freitagabend bei Moran´s eröffnet. Das reetgedeckte Restaurant liegt an einem Weiher. Bei schönem Wetter kann man auf Holzbänken vor der Tür eine üppige Fischplatte zu sich nehmen und das Auge auf den sanften, grünen Hügeln auf der anderen Seite des Weihers ruhen lassen. Irland verfüge über 40 verschiedene Grünschattierungen, so heißt es in einem Volkslied, und beim Anflug auf den Flughafen Shannon findet man das bestätigt.


Weiter rechts, am Horizont, ist die Landschaft jedoch grau: Steinhügel und helle Kalksteinplatten, so weit das Auge reicht. Der Name dieser Gegend scheint es treffend auszudrücken: Burren – vom irischen Wort „boireann“, was „felsiger Ort“ bedeutet. Schon Oliver Cromwells Offiziere behaupteten vom Burren: „Zuwenig Bäume, um einen aufzuhängen, zuwenig Wasser, um einen zu ersäufen, zuwenig Erde, um einen zu verscharren.“


Beim genauen Hinsehen entdeckt man jedoch eine landschaftliche Vielfalt, die einmalig in Europa ist. In dem tausend Quadratkilometer großen Gebiet wachsen Pflanzen aus dem Mittelmeerraum, aus den Alpen und der Arktis einträchtig nebeneinander. Ein besonderes Phänomen sind die Senken, die im Winter von unteriridischen Quellen geflutet werden und im Sommer austrocknen.


Weil man dem irischen Wetter aber auch im Sommer nicht immer trauen kann, hat man vor Moran´s zur Sicherheit eine Markise mit einer Bühne aufgebaut, auf der eine Band irische Schlager vorträgt. Als sie Pause macht, ruft der Besitzer Willie Moran einen Wettbewerb im Austernöffnen aus. „Only for our foreign guests!” Nur für die ausländischen Gäste. Ein Amerikaner, eine Amerikanerin, ein Franzose und eine Schwedin melden sich. Willie Moran zeigt, wie es gemacht wird: „Man bohrt das Küchenmesser gegenüber dem Scharnier hinein, dabei schneidet man den Muskel der Auster durch, eine leichte Drehung, und die Schale zerfällt in zwei Hälften. Jetzt noch die Auster von der Schale abschneiden, wenden – fertig.“


Es sieht leichter aus, als es ist. Die vier Teilnehmer tun sich trotz der Anfeuerungsrufe des Publikums schwer. Die Schwedin hat nach drei Minuten als erste eine Auster geöffnet. Aber dann scheitert sie kläglich an der zweiten. Sie stochert noch immer in der Schale herum, als der Franzose seine sechs Austern schon auf dem Teller arrangiert. Er bekommt einen kleinen Pokal: eine versilberte Auster.


Moran´s ist das berühmteste Restaurant weit und breit. Der US-Regisseur John Houston, der ganz in der Nähe ein Haus besaß, war Stammgast. Einmal, Willie war noch klein, brachte er einen Schauspieler mit. Er rief Willie zu sich an den Tisch und sagte: „Merk dir seinen Namen, er wird einmal berühmt werden.“ Es war Paul Newman.


Inzwischen ist Willie Moran Ende 40 und hat viele Prominente in seinem Restaurant bewirtet. Zu den Gästen zählten Prinzessin Margaret und Lord Snowdon, Gracia Patricia von Monaco und Bing Crosby, John Steinbeck und Joan Baez. Der irische Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney hat Moran´s ein Gedicht gewidmet, das im Speisesaal an der Wand hängt. „Lebendig und verletzt lag sie auf ihrem Bett aus Eis“, beginnt es.


„Einmal war sogar die japanische Kaiserin hier“, erzählt Willie Moran. „Ihr Protokollchef und seine Leute kamen am Vortag und brachten uns Verhaltensregeln bei. Wir sollten uns verbeugen und durften erst reden, wenn wir angesprochen wurden. Am nächsten Tag warteten wir vor der Tür auf die Ankunft der Kaiserin. Kaum war sie aus der Limousine ausgestiegen, da ging mein Vater – er war damals 80 – auf sie zu, schüttelte ihre Hand und hieß sie herzlich willkommen. Der Protokollchef wurde blass, aber die Kaiserin schien ganz froh, dass man sie wie einen normalen Menschen behandelte.“


Früher, als er noch jünger war, hat Willie Moran zweimal die Weltmeisterschaft im Austernöffnen gewonnen, außerdem wurde er sechs Mal irischer Meister, zum ersten mal mit 14. Sein Rekord steht bei einer Minute und 31 Sekunden für 30 Austern. Es kommt aber nicht nur auf die Schnelligkeit an. Wenn zu viele Austern zersplittern, gibt es Punktabzüge. „Man braucht viel Kraft dafür“, sagt er, und man sieht es ihm an: Der Muskel an seiner rechten Schulter ist viel größer als der an der linken.


Bei so vielen Austern muss er doch hin und wieder eine Perle gefunden haben? „Sieben oder acht Stück waren es in den verganegenen 30 Jahren“, winkt er ab. „Winzige Dinger, ich habe sie in einer Streichholzschachtel aufbewahrt, sie aber irgendwann verloren. Die europäische Auster produziert kaum Perlen.“


Aber ist sie ein Aphrodisiakum? Noel Wilkins, Professor für Zoologie an der Universität Galway, hat da seine eigene Theorie: „Alles schaut auf die Auster, aber niemand schaut aufs Glas“, sagt er. „Zur Auster wird Champagner oder schwarzes Bier getrunken. Austernesser haben mehr Lebensfreude. Bei Fuchsjägern ist die Auster zum Beispiel sehr populär, und Fuchjäger sind immer scharf.“ Wilkins, Anfang 50, rundlich, mit schütterem Haar und grauem Bart, weiß alles über Austern, was sich zu wissen lohnt. „Außerdem erinnern geöffnete Asutern an weibliche Genitalien“, doziert er. „Deshalb essen die Japaner keine Austern oder Muscheln, obwohl sie sonst alles essen, was aus dem Meer kommt. Es ist ihnen peinlich.“ Wilkins ist es nicht peinlich, er lässt sich von Willie Moran ein halbes Dutzend servieren. „Die Römer haben manchmal tausend Austern als Vorspeise gegessen“, sagt der Professor. „Heutzutage kann man sich ja nicht mal zehn Dutzend leisten.“


Die Natur kommt mit der Produktion einfach nicht mehr nach. In der Bucht von Galway ist die Austernfischerei mit dem Schleppnetz nur noch an einem einzigen Tag im Jahr gestattet, um die Bestände von Ostrea edulis, der europäischen flachen Auster, zu erhalten. Auch die großen Austernbänke an der Mündung des Colgan liefern nur langsam. Pro Jahr nehmen die wertvollen Masttiere nur zehn Gramm zu.


Während des Festivals in Clarenbridge werden mehr als 40.000 Austern verspeist. Und gut vertragen, meint Austern-Professor Wilkins: „Ostrea edulis verursacht kein Völlegefühl, sie ist sauber, fettarm und schmeckt nach Meer. Die Pazifik-Auster ist dagegen reichhaltiger und schwerer. Davon kann man nicht so viele essen.“


Martha Flaherty mag keine Austern, ob europäisch oder pazifisch. Das gibt sie aber nicht zu. „Ich liebe Austern“, ruft sie und fügt etwas leiser hinzu: „Das muss ich doch sagen. Schließlich bin ich die Austernkönigin.“ In ihrem blauen Kleid mit der Königinnenschärpe hat die 21-jährige ihre Repräsentationspflichten. Ein bisschen aufgeregt ist sie noch, aber das vergeht schnell. Als Königin Martha am Sonntag auf ihrer Sänfte ins Festzelt getragen wird, schwappt ihr eine Welle des Wohlwollens entgegen. Die etwa 2.000 Gäste, überwiegend Einheimische, sind schon in prächtiger Stimmung. Sie haben sich fein gemacht, denn das Austernfestival ist der gesellschaftliche Höhepunkt des Jahres.


Auf der Bühne singt Linda Martin, eine der vielen irischen Siegerinnen beim Eurovisions-Schlagerwettbewerb. Sie ist älter geworden, darüber täuscht auch das leuchtend grüne Kleid mit dem tiefen Rückenausschnitt nicht hinweg. Aber sie bringt die Gäste noch immer in Fahrt. Oder ist es der Alkohol? Kaum ein Mann kann dem kostenlosen Bier des Sponsors Guinness widerstehen, die meisten haben zwei, drei Pints vor sich stehen – jene magischen 0,56 Liter, in denen das Bier in Irland ausgeschenkt wird.


Sonntag ist Familientag in Clarenbridge, Kinder haben freien Eintritt. Es sind sehr viele Kinder gekommen. Haben Austern-Liebhaber mehr Kinder, hat Professor Wilkins Recht? Die Kinder interessieren sich jedenfalls mehr für die beiden Clowns als für die Austern. „Austern? Igitt“, ruft einer, und alle verziehen das Gesicht.


 

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