Englische Höflichkeit und französische Küche


Was für ein Bauwerk! Vor rund 5.000 Jahren kamen die Iberer über Nordwest-Frankreich nach Jersey, bauten aus Stein, ohne Mörtel, eine kreuzförmige Grabkammer im Südosten der Insel und schütteten darüber einen zwölf Meter hohen Hügel mit einem Durchmesser von 52 Metern auf. „La Hougue Bie“, so heißt das neolithische Grab. Der Name bedeutet „Hügel der Hambye“, nach einer wohlhabenden Familie aus der Normandie, die viel Land auf Jersey besaß.


„La Hougue Bie ist eine Kurzfassung der Geschichte Jerseys“, sagt Arthur Lamy. Er ist fit, sehr fit, denn im Sommer macht er mit Besuchern Radtouren über die Insel. Er kennt jeden Winkel von Jersey, er ist hier geboren, seine Großeltern kamen Anfang des 20. Jahrhunderts aus Frankreich herüber. Lamy ist 52, er hat eine Glatze und einen Ziegenbart, aber er sieht jünger aus.


„La Hougue Bie wurde 500, veilleicht auch tausend Jahre benutzt“, sagt er. „Dann, etwa 3000 vor Christus, wurde das Grab – wie alle Ganggräber auf den Kanalinseln – verlassen und versiegelt. Den Grund kennt niemand. Jedenfalls muss die Gesellschaft damals einen starken Wandel durchgemacht haben.“ Es dauerte bis zum 12. Jahrhundert, als sich in La Hougue Bie wieder etwas tat. Einer der Lords von Hambye ließ oben auf dem Hügel die Kapelle Notre Dame de la Clarté errichten. 1520 kam östlich davon eine zweite Kapelle hinzu, die Jerusalem-Kapelle. Ein Dekan Mabon ließ sie bauen, nachdem er von einer Pilgerfahrt nach Jerusalem zurückgekehrt war. Um den Bau zu finanzieren, gaukelte er den Leuten mit allerlei Tricks Wunder vor und löste dadurch eine Art Massentourismus aus.


„Das dunkelste Kapitel in der Geschichte von Jersey hat seine Spuren auf der rechten Seite des Hügels hinterlassen“, sagt Lamy. Dort, gegenüber des Eingangs zum neolithischen Grab, befindet sich ein weiterer Eingang. „Er führt in einen Bunker tief unter dem Hügel“, sagt Lamy. „Die Deutschen haben ihn während der Besatzungszeit gebaut.“ Die Kanalinseln – neben Jersey sind das Guernsey, Alderney, Herm, Sark und ein paar noch kleinere Inseln – waren der einzige Teil Großbritanniens, der von den Nazis während des Zweiten Weltkriegs besetzt wurde. Ihre Spuren finden sich auf der ganzen Insel. An der Küste stehen zahlreiche Bunker, manche werden heute als Fischgeschäfte benutzt.


Einen viel aufwendigeren Bau haben die Deutschen im Tal von St. Lawrence unterirdisch angelegt. Er besteht aus scheinbar endlosen Gängen, von denen Dutzende von Räumen abzweigen. Ursprünglich sollte es eine Kaserne für die Artillerie werden, doch als die Aliierten 1944 in der Normandie landeten, mussten Sklavenarbeiter die Anlage zu einem Krankenhaus umbauen, weil die Nazis mit einem Angriff auf die Kanalinsel rechneten. Der kam jedoch nicht. Erst am 9. Mai 1945 landeten britische Soldaten auf Jersey und nahmen sich die Insel kampflos zurück.


Die Besatzungszeit ist ein sensibles Thema auf Jersey. 8.000 Bewohner wurden in dieser Zeit evakuiert, 1.200 kamen nach Deutschland in die Konzentrationslager, viele Sklavenarbeiter kamen beim Bau der unterirdischen Anlage ums Leben und wurden an Ort und Stelle verscharrt. Aber die Kollaboration mit den Besatzern war viel weiter verbreitet, als es die Inselbewohner heute wahrhaben wollen. Die Dokumente aus der damaligen Zeit sind noch immer unter Verschluss, niemand redet gerne darüber.


Umso mehr spricht man von einem Ereignis, das bereits gut 800 Jahre zurückliegt: „1204, nach dem Niedergang von Rouen, hatte Jersey die Wahl zwischen John, König von England und Herzog der Normandie, sowie Philippe Auguste von Frankreich“, erzählt Lamy. „Die Kanalinseln entschieden sich für England.“ Dabei liegen sie im Golf von St. Malo, nur gut 20 Kilometer vor Frankreich. Zur englischen Südküste sind es 160 Kilometer. Das Jubiläum ihrer Zugehörigkeit zur britischen Krone haben die Bewohner im vorigen Jahr ausgiebig mit Vorträgen, Schauspielen, Konzerten und Ausstellungen gefeiert.


Dem Vereinigten Königreich oder der Europäischen Union gehören sie jedoch nicht an. Die inneren Angelegenheiten erledigt das Inselparlament, die „States of Jersey“. Es erlässt die Gesetze, zum Beispiel gegen das „illegale Ausleihen“ von Autos. „Wegen Autodiebstahl wird niemand angeklagt“, sagt Lamy, „denn mit einem geklauten Wagen kommt man nicht von der Insel herunter.“ Ein anderes Gesetz aus dem 16. Jahrhundert untersagte es Männern zu stricken, weil sie sonst die Ernte vernachlässigten. Das Gesetz gilt heute noch für die Monate August und September.


Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sind in der Gesetzgebung hingegen nicht vorgesehen. Bedürftige müssen zu ihrem Gemeinderat gehen und ihren Fall vortragen. „Der Rat schickt dann jemanden vorbei, der sich zunächst anschaut, was der Antragsteller verkaufen kann, bevor er finanzielle Hilfe bekommt“, sagt Lamy. Man will unter sich bleiben. Die Insel sei zu klein für Einwanderung, heißt es. Dabei hat sie einem US-Staat den Namen gegeben.


Auf Jersey leben rund 770 Einwohner auf jedem Quadratkilometer. Es ist die größte Kanalinsel, aber sie ist auch nur 116 Quadratkilometer groß. Bei Ebbe kommen nochmal 30 Quadratkilometer hinzu – der zweitgrößte Tidenhub der Welt. Man kann die Hummer, die von der rasanten Ebbe überrascht wurden, einfach auf dem Watt einsammeln.


Die Insel wächst aber auch, weil man sich das Land vom Meer zurückholt: Der Müll wird aufgeschüttet. Liberation Square, den Platz der Befreiung in der Hauptstadt St. Helier, an dem das Fremdenverkehrsamt liegt, gab es früher nicht. Die Stadt ist sehr englisch, die Geschäfte in der Fußgängerzone sind Zweigstellen englischer Ladenketten. Doch die Straßennamen sind überwiegend französisch, wenn sie auch von den Einwohnern englisch ausgesprochen werden. Das Jèrriais, die normannisch-französische Inselsprache, ist fast ausgestorben. Englische Lehrer, die vor hundert Jahren kamen, verboten den Kindern, sie zu sprechen.


In St. Helier lebt die Hälfte aller Einwohner, auch Victor Hugo wohnte hier. Er kam 1852 nach Jersey, weil er aus politischen Gründen aus Frankreich flüchten musste. Er kaufte für sich und seine Familie ein Haus in der Marine Terrace, weil es nicht weit zum Strand war. Dort saß er oft auf dem Felsen Rocher des Proscrits und schaute nach Süden, nach Frankreich. Heute ist an dem Felsen eine Gedenkplakette angebracht. „Sie ist Frankreich für uns“, schrieb Hugo in seinem Gedicht „Jersey“, „und in ihrem Blumenbeet ist sie sowohl Lächeln als manchmal auch Tränen.“ Hugo blieb nicht lange auf Jersey, ein Jahr nach seiner Ankunft musste er schon wieder fliehen. Einer der französischen Flüchtlinge hatte einen Schmähbrief gegen die englische Königin veröffentlicht, Hugo erklärt sich mit dem Autor solidarisch.


Königin Victoria hatte einige Male Urlaub auf Jersey gemacht, wie spatter auch Karl Marx, der sich in die Insel verliebte. Berühmt wurde Jersey aber durch die Fernsehserie „Bergerac“, in der der gleichnamige Detektiv in den achtziger Jahren mit seinem Auto über die Insel brauste. „Jersey verfügt über ein Straßennetz von 900 Kilometern“, sagt Arthur Lamy. „Es gibt 78.000 Autos – das ist fast eins für jeden Einwohner.“ 65 Kilometer Straße sind „Green Lanes“, auf denen Fußgänger und Radfahrer Vorrang haben. „Königin Elisabeth ist als Herzogin der Normandie Landesherrin, sie kam 1989 nach Jersey“, erzählt Lamy. „Irgend jemand meinte, dass sie auf der Inselrundfahrt womöglich auf die Toilette müsse. So haben wir einen strategisch günstigen Bauernhof ausgesucht, an dem sich mehrere Green Lanes kreuzen, und dem Farmer eine Toilette für 25.000 Pfund gebaut. Die Queen hat sie nicht benutzt. Sie hat eine stärkere Blase, als wir angenommen hatten.“


Welcher Teil der Insel ihr am besten gefallen hat, ist nicht überliefert. Im Norden ist Jersey jedenfalls französisch, man könnte meinen, man sei in der Normandie. Die Landschaft ist ein wenig hügelig, alles ist grün, bis auf die Bauernhäuser aus rotem Granit sowie die braunen Jersey-Rinder. Ihre Zucht begann 1789, seitdem wacht ein Reinheitsgebot über die Rasse. Genauso bekannt als Exportschlager wie die Kühe sind die Pullover. Der Name „Jersey“ steht inzwischen für Strickwaren aller Art.


Aber das Geld verdient die Insel nicht mit Kühen oder Pullovern, sondern mit Geld. Die Kanalinseln sind ein Steuerparadies. Es gibt keine Erbschaftssteuer, keine Umsatz- oder Kapitalertragssteuer. Die Unternehmen, die eine Pauschalabgabe von 300 Pfund im Jahr zahlen, nutzen das. Die knapp 40.000 Gesellschaften auf Jersey und Guernsey erwirtschaften fast die Hälfte des Bruttosozialprodukts. Der Europäischen Union ist das ein Dorn im Auge, sie wittert „Verschleierung von Gewinn aus kriminellen Unternehmungen“. Aber auch die Queen lässt weite Teile ihrer Kunstsammlungen von Jersey aus verwalten und spart dadurch Steuern. Die Einheimischen zahlen 20 Prozent Einkommenssteuer.


Aber es ist nicht leicht, Einheimischer zu werden. Man muss 17 Jahre auf Jersey gewohnt haben, bevor man ein Haus kaufen darf – es sei denn, man hat drei Millionen Pfund auf der Bank. „So viel kostet die Eintrittskarte nach Jersey“, sagt Arthur Lamy. „Aber es lohnt sich. Wo sonst findet man diese Kombination aus englischer Höflichkeit und französischer Küche? Es wäre furchtbar, wenn es umgekehrt wäre.“

 

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